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In grellem Licht

In grellem Licht

Titel: In grellem Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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Angst war, die das Sterben so schwierig machte. Und auch
nicht die Wut. Es war nicht der Kampf darum, sich auf dem Wellenkamm
festzuhalten, wenn diese Welle früher oder später doch den
Gesetzen der Physik gehorchen und für immer verebben
mußte. Es war nicht die ohnmächtige Wut, daß ein
ganzes Leben voller Ich ganz einfach erlöschen würde wie
eine Kerzenflamme. Die Metaphern waren alle falsch und viel zu
dramatisch.
    Es war mehr so, als würde man eine Besprechung verlassen
müssen, ehe alle Punkte der Tagesordnung durchgegangen
waren.
    Ich konnte mich von meinem Leben trennen. Ich konnte sogar Maggie
verlassen, deren Leben ohne mich vergleichsweise nicht mehr sehr
lange laufen würde. Aber wie konnte ich Laurie mitten in ihrem
herzzerbrechenden Lechzen nach einem Kind verlassen? Wie konnte ich
John verlassen, ehe er nicht endlich erwachsen war? Wie konnte ich
Sallie verlassen, die man meinetwegen gefeuert hatte? Wie konnte ich
selbst Shana verlassen, das arme Ding, das zu einer Gefahr für
sich und seine Umgebung wurde, weil es sich mit Gewalten anlegte, die
um Größenordnungen mächtiger waren als sie? Wie
konnte ich mitten in der Geschichte aufstehen und gehen, ohne
herauszufinden, wie sie ausging?
    Mitten in der Geschichte. Ja, langsam bekam ich genau dieses
Gefühl – mitten in einer Geschichte zu sein, an der nur ein
Stück von mir Anteil hatte, während der Rest bereits das
Buch schloß und sich schon anderswo befand. Aber immer noch
wollte ich, daß die Geschichte zu einem guten Abschluß
kam.
    O Tod, du eloquenter, du beweist uns nur, daß wir
für Staub entbrennen, wenn wir Menschen lieben. Pope.
    Einmal, ein einziges Mal nur hätte ich gern einen Gedanken
gehabt, der nicht von einem Toten schon besser formuliert worden
ist.
    Langsam ließ ich mich an meinem Kissen hinabsinken. Irgendwo
draußen, am anderen Ende des Korridors, stöhnte jemand.
Und jemand anderer – oder vielleicht nur das Pflegeprogramm
– murmelte leise. Und all das – seltsame Vorstellung, trotz
allem – würde weitergehen ohne mich. Doch bis dieser Moment
kam, mußte ich überlegen, wie ich die noch offenen Punkte
auf meiner Tagesordnung erledigte und jenen Menschen half, die nicht
mit mir gehen konnten, wenn ich dem Rest der Besprechung entfloh.

14
    SHANA WALDERS
     
    Ich kann’s einfach nicht glauben. Da schmeiße ich
Wochen meiner Zeit, einen Haufen Geld und eine halbwegs gute
polizeiliche Beurteilung zum Fenster hinaus, nur um an Cameron Atuli
ranzukommen, und dann spaziert er zu Nicks Tür herein. Spaziert
einfach herein! Das muß man sich mal vorstellen.
    Im Eßzimmer sind wir lange allein. Ich stelle einen
Musikchip an, richtig laut, damit keiner hört, was wir reden.
Als wir wieder rauskommen, ist Maggie weggegangen, was erklärt,
warum ihre Hoheit nicht an die Eßzimmertür gehämmert
hat, während ich Atuli ausquetschte. Sallie, die von Atlanta
raufgekommen ist und wegen irgendwas eine Mordswut hat, ist auch
nicht da. Sogar die Vordertür steht halb offen, so als
hätten sie das Haus in wilder Eile verlassen. Das paßt zu
keiner von beiden. Aber ich habe keine Zeit, um darüber
nachzudenken.
    »Sind Sie sicher, daß er hinkommt?« frage ich
Atuli.
    »Er wird dort sein«, sagt er und strafft sein
hübsches Kinn. Mir ist klar, daß er keine Lust hat, viel
zu reden, also halte ich während der Zugfahrt nach Washington,
D.C. den Mund. Atuli ist ein komischer Typ – in einer Sekunde
zittert er vor Nervosität, in der nächsten ist er grimmig
entschlossen und bitterböse. Und er zeigt das alles ganz
deutlich, was einfach dumm ist. Man muß sich doch bedeckt
halten!
    Ich führe uns beide in Züge hinein und aus Zügen
heraus, bis ich sicher bin, daß uns niemand folgt. Die Ocean
Bar in Washington ist ein Scheißhaus, das sich bemüht,
auszusehen wie ein Aquarium. Holo-Meerjungfrauen schwimmen durch die
Luft, und die Getränkekarten auf den Tischen haben die Form von
Muscheln. Aber zu dieser Tageszeit ist die Bar leer – zumindest
der allgemein zugängliche Gästebereich –, und so
belästigt einen das Bedienungsprogramm nicht andauernd mit
Bemerkungen darüber, wie lange man schon dasitzt, ohne etwas
nachzubestellen. Radisson wartet an einem Tisch im Hintergrund und
wirkt noch nervöser als Atuli. Seine Stimme ist leise und
sanft.
    »Cameron!«
    »Tut mir leid, wenn ich die Beherrschung verloren habe, Rob.
Verzeih mir.« Atuli greift nach seiner Hand, und Radisson packt
sie und hält sich daran fest, als würde er

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