In guten wie in toten Tagen
überall in ihn verlieben. Und dann entstehen halt wieder neue Gerüchte.«
»Cara hat recht«, sagte Julia. »Da musst du drüberstehen. Was anderes bleibt dir gar nicht übrig. Also, es sei denn, du heiratest den Ebinger, der ist über jeden Verdacht erhaben.«
Ebinger war ihr ehemaliger Physiklehrer, er war über fünfzig und fettleibig und Kettenraucher.
»Na, ob der mich will? Vielleicht bleib ich doch lieber bei Tom.« Helena gähnte. »Ihr seid mir doch nicht böse, wenn ich mich verziehe? Cara, lass einfach alles so stehen und liegen. Wir räumen morgen auf, okay?«
»Niemand ist dir böse«, sagte Cara. »Schlaf gut.«
»Da waren’s nur noch drei«, sagte Ronja, als auch Helena weg war. »Wie war das mit der Suppe? Oder willst du jetzt auch schlafen?«
Ja, dachte Cara. Sie war seit sechs Uhr morgens auf den Beinen und jetzt war es zwei. Und Helena, wegen der sie das Ganze überhaupt machte, war ins Bett gegangen.
»Nein, Quatsch«, sagte sie laut, ging in die Küche und schöpfte zwei Teller Suppe. Einen für Julia, einen für Ronja, den sie in einer halben Stunde wieder auskotzen würde. »Guten Appetit.«
Dann fiel die Haustür auch hinter Julia und Ronja ins Schloss und Cara war allein. Sie ließ sich aufs Sofa fallen und schloss die Augen. Auf einmal war sie überhaupt nicht mehr müde, sie fühlte sich hellwach. In ihrem Kopf summten die Gedanken, sie kreisten um Helena und Tom und May wie Mücken um ein Windlicht.
Schenker hat mit der halben Schule geschlafen.
Die Gerüchte hatte sie selbst natürlich auch schon gehört. In ihrer Stufe hatte man damals immer gemunkelt, dass Schenker was mit Marie-Lou hatte, aber nach dem Abitur war herausgekommen, dass Marie-Lou in Wirklichkeit mit einem Zahnarzt aus Dülken zusammen war, der sich ihretwegen von seiner Frau scheiden ließ.
Vor Helena, das alles war auch vor Helenas Zeit gewesen.
Sie stand wieder auf und begann mechanisch, Gläser und Tassen auf ein Tablett zu stellen. Aufzuräumen. Neben dem Sofa hatte jemand Aperol verschüttet. Cara ging auf die Knie und begann den nassen, klebrigen Fleck mit einer Papierserviette zu bearbeiten. Sie rieb und rieb, bis sich die Serviette auflöste und in gelben Fusseln auf dem Teppich verbreitete.
Als hätte jemand ein Küken gerupft, dachte Cara und kämpfte plötzlich mit einem hysterischen Lachen, das in ihr aufstieg wie eine Luftblase in einem Proseccoglas. Das ist ja auch alles zum Lachen, dachte sie. Lächerlich, total lächerlich.
Als sie fünf Jahre alt gewesen war, hatte Helena ihr das Fahrradfahren beigebracht. Damals hatten sie noch in der Engelbertstraße gelebt, in einer Reihenhaussiedlung mit vielen Kindern, und alle konnten Fahrrad fahren, nur Cara nicht. Ihr Vater hatte immer wieder mit ihr geübt. »Das ist doch nicht so schwer«, hatte er gesagt. »Das lernt doch wirklich jeder.«
Er hatte zuerst eines der Stützräder abgeschraubt und sie war losgefahren, ein bisschen wackelig, aber es ging. Da hatte er sie gelobt. Und dann hatte er das andere Stützrad entfernt. Cara stieg auf und fuhr los und fiel um. Und stand auf und fuhr los und fiel um. Und stieg wieder auf und fiel wieder um und begann zu weinen und das konnte ihr Vater auf den Tod nicht leiden. Die Heulerei. »Ist doch nicht schlimm, wenn du es nicht kannst«, herrschte er sie an. »Du musst es eben weiter versuchen. Noch mal und noch mal, beiß dich durch.«
Sie wollte sich ja auch durchbeißen, sie wollte es schaffen, also versuchte sie es wieder und wieder, bis ihr linkes Knie blutete und der linke Ellenbogen auch. Sie wollte sich auch zusammenreißen und nicht weinen, aber die Tränen liefen einfach aus ihr heraus, sie konnte sie nicht aufhalten.
Da kam er zu ihr und packte sie an den Schultern. Er atmete schwer, am liebsten hätte er ihr eine geknallt, das wusste sie, das wusste er, aber das ging nicht, nicht auf offener Straße, die Nachbarn hingen ja schon in den Fenstern und glotzten und freuten sich. Ihre Kinder konnten alle Rad fahren, selbst die kleine Amanda und die war erst drei.
Nur Cara nicht.
»So wird das nichts«, sagte ihr Vater leise. »Entweder du gibst dir Mühe oder wir lassen das.«
Cara schniefte, schluckte, schluchzte, würgte, weil ihr Knie und ihr Ellenbogen so brannten, weil sie sich so erbärmlich fühlte und so dumm, weil sie verzweifelt war. Weil sie genau wusste, dass es keinen Sinn hatte. Sie schaffte es nicht.
Jedenfalls nicht an diesem Nachmittag.
Der nächste Tag war ein Montag, da
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