In guten wie in toten Tagen
»Seien Sie doch nicht so misstrauisch. Wir wollen uns nur ein Bild machen.«
Wenn ich es ihnen nicht erzähle, fragen sie eben die anderen, dachte Cara. May, Ronja, Julia, Jacky, Viola. Irgendeine wird auspacken, wahrscheinlich sogar alle. Und dann steht Helena richtig blöd da.
»Also gut«, sagte sie. »Da war was. Eine von Helenas Freundinnen war am Ende ziemlich betrunken und hat eine Menge dummes Zeug geredet.«
»Wer?«
»May Schick. Sie hat erzählt, dass Tom … Also, angeblich hatte sie auch schon was mit ihm.«
»Sie hatte was mit dem Ermordeten«, wiederholte Frau Sonntag.
»Aber vor Helenas Zeit.«
»Wann genau?«
»May ging damals noch zur Schule. Es war kurz vor dem Abitur. Nur ein einziges Mal … Und meine Schwester ist erst seit letztem Sommer mit Tom zusammen.« War, war, war. War mit ihm zusammen.
»Wie hat Ihre Schwester reagiert?«
»Na ja. Sie können sich ja vorstellen, dass sie nicht gerade begeistert war.«
»Und danach? Haben Sie weitergefeiert oder war die Party zu Ende?«
»May ist dann gegangen. Zusammen mit Jacky Stolzmann. Sie hat bei ihr übernachtet. Ich meine May bei Jacky. Viola ist mit ihnen weg. Und die anderen beiden sind auch kurz danach nach Hause. War auch schon spät.«
»Wie spät?«
»Kurz nach zwei oder so.«
»Ihre Schwester war sehr betrunken«, sagte Frau Sonntag.
»Gestern Nacht war sie nicht so blau«, sagte Cara. »Ich meine, wir haben alle einiges getrunken. Aber Helena wirkte ganz klar auf mich, als sie ins Bett ist.«
»Sind Sie da sicher?«
»Ganz sicher. Sie muss später noch getrunken haben.«
Jetzt kam Herr Eckert wieder in den Raum, er stellte einen Pappbecher mit Kaffee und einen Teller mit einem Brötchen vor Cara ab. »Gab nur Schinken«, sagte er. »Hoffentlich sind Sie keine Vegetarierin.« Er lachte, als wäre das eine vollkommen absurde Vorstellung.
Der Kaffee roch bitter und verbrannt. Der Schinken glänzte grünlich. Cara kämpfte mit der Übelkeit. »Danke«, sagte sie mit gepresster Stimme.
»Nichts zu danken«, sagte Herr Eckert großzügig.
»Alles klar?«, fragte Frau Sonntag.
Cara nickte. Aber es stimmte nicht. Ihr war nichts klar, überhaupt nichts. Außer dass sie gerade eben eine Riesendummheit gemacht hatte. Es wäre sicher besser gewesen, wenn sie geschwiegen hätte, viel besser.
Stattdessen hatte sie Helena schwer belastet. Die Kripobeamtin kritzelte etwas auf einen Notizblock. Wie sollte Cara das Helena jemals erklären?
»Ich fasse zusammen.« Frau Sonntag verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihre Schwester feierte gestern ihren Junggesellinnenabschied und erfährt im Zuge dessen, dass eine ihrer besten Freundinnen eine Affäre mit ihrem zukünftigen Bräutigam hatte.«
»Affäre ist übertrieben. Sie hat einmal mit ihm geschlafen.«
Frau Sonntag nickte. »Nach der Party bekommen Sie zufällig mit, wie Ihre Schwester mit Herrn Schenker telefoniert. In welcher Verfassung war sie da, Ihrer Meinung nach?«
»Sie war … o. k. Ganz ruhig. Sie haben sich ausgesprochen und versöhnt.«
»Meinen Sie. Aber kurz danach verließ Ihre Schwester offensichtlich das Haus, ohne Ihnen Bescheid zu geben.«
»Sie ist mir ja auch keine Rechenschaft schuldig.«
»Natürlich nicht. Sie haben Ihre Schwester danach nicht mehr gesehen. Bis zum Morgen nicht mehr. Und da war sie deutlich betrunkener als gestern Nacht.«
»Ja«, meinte Cara widerstrebend.
Frau Sonntag nickte und drückte auf die Stopptaste des Aufnahmegerätes. »Ich lasse das abtippen, dann lesen Sie es sich durch, und wenn alles stimmt, unterschreiben Sie es bitte.«
»Und dann?«
»Können Sie nach Hause.«
»Und Helena?«
»Ihre Schwester schläft sich erst einmal aus. Wenn sie einigermaßen nüchtern ist, darf sie ebenfalls nach Hause.«
»Sie ist also nicht verhaftet?«
»Nein«, sagte Frau Sonntag.
»Ich gehe zu ihr«, sagte Cara. »Ich bleibe so lange bei ihr, bis sie wieder aufwacht.«
»Wie Sie möchten. Was ist denn jetzt mit dem Brötchen?«
»Ich … kann jetzt doch nichts essen. Entschuldigung.«
»Kein Problem.« Frau Sonntag zog den Teller zu sich und biss beherzt zu. Krümel fielen auf ihre karierte Bluse. »Den Kaffee möchten Sie auch nicht mehr?«, fragte sie mit vollem Mund.
Cara schüttelte den Kopf. Plötzlich fiel ihr das Frühstück wieder ein. Die anderen wollten um zwölf vorbeikommen. Jetzt war es halb elf. Wenn wir das noch schaffen wollen, müssen wir uns beeilen, dachte Cara, und erst dann wurde ihr bewusst, wie
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