In guten wie in toten Tagen
Hand vor den Mund und sah Cara entsetzt an. »Das glaubst du doch nicht im Ernst.«
»Natürlich glaube ich das nicht«, sagte Cara. »Niemand bringt einen anderen Menschen um, damit ein anderer sich schlecht fühlt. Aber stell dir vor, ich würde es irgendwie schaffen, die Kommissarin davon zu überzeugen, dass es stimmt. Und die anderen würden es mir auch abnehmen. Eine Freundin nach der anderen kippt um, eine nach der anderen gibt dich auf. Viola? War immer schon ein bisschen komisch und diese Sache mit Benny hat ihr den Rest gegeben. Stell dir das doch mal vor.«
»Was soll das, Cara? Willst du mir irgendwie drohen? Das ist doch lächerlich.«
»Warum sollte ich dir drohen? Womit denn? Ich will nur, dass du mal darüber nachdenkst, wie furchtbar Helenas Situation eigentlich ist. Wie sie sich fühlt. Sie sitzt im Knast. Irgendjemand hat ihren Verlobten umgebracht und will ihr den Mord in die Schuhe schieben. Aber keiner glaubt ihr. Nicht einmal ihre besten Freundinnen. Wir müssen ihr helfen, Viola. Das ist doch jetzt wirklich wichtiger als deine …«
»Als meine was?«, fiel Viola ihr ins Wort. »Meine blöde Liebesgeschichte, mein gebrochenes Herz, mein Leben? Du hast recht, wenn es um die schöne Helena geht, dann ist das natürlich total nebensächlich. Ich will dir mal was sagen, Cara, auch wenn dir das nicht in den Kram passen wird. Deine große Schwester ist nur in sich selbst verliebt. Ja, ich glaube, sie wusste ganz genau, dass Benny auf sie steht. Und das hat ihr gefallen. Sie hat mit ihm gespielt, sie spielt mit allen, sie schubst sie rum und benutzt sie, wie es ihr passt. Und wenn das Spielzeug kaputt ist, dann verliert sie das Interesse und lässt es einfach liegen.« Ihre Stimme war immer leiser geworden, am Schluss flüsterte sie fast. Sie sah jetzt nicht mehr aus wie eine Madonna, sie sah aus wie ein Racheengel mit kieselharten Augen, mit wutroten Wangen.
Cara trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Gerade eben hast du noch was ganz anderes gesagt.«
»Ich wollte es dir nicht sagen. Weil ich dich mag. Weil ich weiß, wie sehr du sie bewunderst. Aber glaub mir, Cara, du kennst Helena gar nicht richtig.«
Du kennst Helena gar nicht richtig. Sagte Viola. Sagten auch Ronja und Julia. Und waren fest davon überzeugt, dass sie alles über Helena wussten. Aber im Unterschied zu ihnen waren Cara und Helena Schwestern. Und waren zusammen aufgewachsen. Sie hatten denselben jähzornigen Vater, dieselbe schwache Mutter und dieselbe beschissene Kindheit. Sie hatten zusammen gefrühstückt und zu Abend gegessen und sich gegenseitig getröstet und hatten sich Mut gemacht, wenn das Geschrei aus der Küche oder aus dem Wohnzimmer oder aus dem Schlafzimmer zu laut wurde. Wenn einer Helena kannte, dann war das Cara.
Viola redete und redete, ihr Mund öffnete und schloss sich und formte Worte, die Cara nicht erreichten. Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht gab es doch noch eine andere Helena, eine kalte, selbstsüchtige, harte Helena, die Tom umgebracht hatte. Cara war plötzlich schlecht. Sie atmete ein und aus und konzentrierte sich darauf, die Übelkeit zurückzudrängen.
»Ich muss los«, sagte sie in Violas Wortfluss hinein.
Als sie die Wohnungstür hinter sich zuzog, setzte das Cello wieder ein.
Unten auf der Straße klingelte ihr Handy.
»May hier«, sagte May. »Ich hab grad ein bisschen Zeit und wollt mich mal melden.«
»Das ist gut.«
»Gibt’s was Neues von Helena?«
»Leider nein. Sie sitzt immer noch in U-Haft.«
»Oh Mann. Na ja, es war nicht anders zu erwarten. Sag mal, was hast du dir eigentlich dabei gedacht, den Bullen alles zu erzählen? Diese Kommissarin wusste über die ganze Party Bescheid. Musstest du ihr denn jede Einzelheit haargenau berichten? Mir kann es egal sein, aber für Helena ist es ja wohl richtig scheiße.«
»Ich war einfach fertig, als sie mich befragt haben. Und hab nicht richtig nachgedacht«, verteidigte sie sich mit belegter Stimme.
»Erst denken, dann reden«, sagte May. »Auch wenn man fertig ist. Gerade wenn man fertig ist. Glaub mir, ich sprech aus Erfahrung!«
»Tut mir leid«, sagte Cara.
»Was gibt’s denn? Ich hab nicht so wahnsinnig viel Zeit …«
»Wann kann ich denn mal mit dir reden?«
May seufzte. »Jetzt bin ich also dran.«
»Du bist dran? Was meinst du damit?«
»Ronja hat mir erzählt, dass du bei ihr warst und sie ausgefragt hast, und danach warst du bei Julia. Und jetzt machst du bei mir weiter. Also echt.«
»Na hör
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