In guten wie in toten Tagen
Seidelmann zu sprechen. Im Treppenhaus roch es genau wie früher. Nach feuchten Klamotten, verschimmelten Pausenbroten und verbranntem Kaffee. Vor dem Lehrerzimmer standen zwei Fünftklässlerinnen, die eine heulte, die andere versuchte, sie zu trösten. Eine Lehrerin kam jetzt die Treppe herunter, einen Stapel Hefte unter dem einen Arm, eine Tasche unter dem anderen, eilte sie mit gesenktem Kopf auf das Lehrerzimmer zu. Cara erkannte Frau Sommer, die sie ein Jahr lang in Religion gehabt hatte, in der Neunten oder Zehnten.
»Frau Sommer!« Die Kleine, die nicht weinte, trat der Lehrerin in den Weg und brachte sie dadurch fast zu Fall. »Können Sie mal schauen, ob Herr Burkhardt da drin ist?«
»Ich möchte zu Herrn Seidelmann«, sagte Cara.
Frau Sommer sah sie kurz an, nickte und verschwand im Lehrerzimmer.
Kurz darauf erschien sie wieder in der Tür. »Herr Burkhardt kommt, Herr Seidelmann ist nicht da.«
Wieder ein kurzer Blick zu Cara, die damals in der ersten Reihe gesessen hatte, direkt vor ihrem Pult, aber Frau Sommer erkannte sie nicht wieder. Das war normal. Niemand erkannte Cara wieder. Die Verkäuferin in der Bäckerei, die Frau an der Supermarktkasse, die Sprechstundenhilfe beim Zahnarzt. Alle vergaßen ihr Gesicht sofort wieder, sobald Cara ihnen den Rücken zuwandte. Aber wenn sie ihren Nachnamen hörten, leuchteten ihre Augen auf. »Fliedner? Sind Sie etwa die Schwester von Helena?«
Heute war Cara froh, dass Frau Sommer sich nicht an sie erinnerte und dass sie sie auch nicht mit Helena in Verbindung brachte. »Wo könnte Herr Seidelmann denn sein?«, fragte sie.
»Keine Ahnung. Fragen Sie halt mal im Sekretariat nach.«
Im Sekretariat saß Frau Müller, die früher schon dick gewesen war, aber in den letzten Monaten hatte sie mindestens dreißig Kilo zugelegt. Nur ein Drittel ihres Hinterns fand Platz auf ihrem Bürostuhl, der Rest ragte links und rechts ins Leere.
»Ich hab einen Termin mit Herrn Seidelmann«, log Cara. »Aber nun ist er nicht da.«
Frau Müller blätterte schnaufend in einem dicken schwarzen Buch, dann klickte sie auf ihrer Computertastatur herum. »Das kann überhaupt nicht sein. Er hat nämlich gerade Unterricht.«
»Ach echt? Na, so was. Vielleicht hab ich mich in der Uhrzeit vertan.«
»Ist ja gleich Pause. Vielleicht sprechen Sie sich mit ihm ab. Zimmer 202, zweiter Stock.«
»Vielen Dank.« Als Cara schon an der Tür war, fiel ihr die Referendarin wieder ein. »Sagen Sie mal, wissen Sie zufällig, was aus Frau Ehlers geworden ist?«
»Aus wem?«
»Frau Ehlers. Sie war als Referendarin hier an der Schule. Vor ein paar Jahren. Haben Sie eine Ahnung, wo sie jetzt ist?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Hätte ja sein können.«
»Ist aber nicht so. Außerdem gibt es ja so was wie Datenschutz«, sagte Frau Müller.
Im Unterschied zu Frau Sommer hatte Sven Seidelmann Cara nie unterrichtet, dennoch erinnerte er sich sofort an sie. »Sie sind Helenas Schwester«, sagte er.
»Genau. Und Sie sind … Sie waren mit Tom befreundet.«
»Richtig.« Er nickte ein paarmal hintereinander. »Schlimme Sache. Furchtbar das. Wir sind alle total geschockt.« Herr Seidelmann war groß und athletisch gebaut und hätte super ausgesehen, nur leider litt er unter einer schlimmen Akne, weshalb er von den Schülern immer Eitermann genannt wurde. Das fiel Cara jetzt wieder ein.
»Sie haben sich doch noch mit ihm getroffen, bevor er … gestorben ist.«
»Ich? Nein, ich hab ihn am Freitag in der Schule zum letzten Mal gesehen.«
»Aber Sie waren doch in der Melody Bar mit ihm verabredet«, meinte Cara. »Das hat er uns erzählt, als wir ihm dort begegnet sind.«
»Ach so. Ja stimmt, wir waren verabredet. Ich konnte aber nicht. Meine Frau ist schwanger und am Samstag ging es ihr nicht gut. Hab versucht, Tom anzurufen, aber ich hab ihn nicht erreicht. Warum wollen Sie das denn überhaupt wissen?«
»Helena sitzt im Gefängnis. Sie ist die Hauptverdächtige.«
»Ich weiß.« Seidelmann nickte wieder drei-, vier-, fünfmal und blinzelte dabei nervös.
»Was glauben Sie?«, fragte Cara.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihre Schwester … aber das Ganze ist ja per se unvorstellbar. Nein, tut mir leid, ich hab wirklich keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte. Vielleicht ein Einbrecher, dem Tom in die Quere gekommen ist.«
»Ein Einbrecher, der mit einer Haarnadel zusticht?«
»Haarnadel?«, fragte Seidelmann.
»Tom hatte eine Haarnadel im Auge.«
Seidelmann zuckte
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