In guten wie in toten Tagen
als wäre das eine absurde Frage.
»Das spielt doch gar keine Rolle, was ich will oder nicht will.«
»Du musst hier weg, May«, sagte Cara. »Egal wohin. Vergiss das Praktikum. Such dir irgendwo einen Job und ein Zimmer. Fang neu an.« Es war natürlich seltsam, dass sie May gute Ratschläge gab. Ausgerechnet sie. Drei Jahre jünger und ohne Lebenserfahrung.
Mays Augen wurden auch prompt schmal vor Widerwillen.
»Hast du dich mit Theresa unterhalten, ja?«, zischte sie. »Habt ihr euch abgesprochen? Ich mach mir solche Sorgen um May. Sie muss unbedingt mal raus, die Arme«, säuselte sie und verdrehte dann die Augen. »Ach, fickt euch doch. Alle beide.«
»Spinnst du, May? Ich kenn deine Schwester doch gar nicht, warum sollte ich mit ihr über dich reden …?«
»Meine Schwester?«, fiel May ihr ins Wort. »Theresa ist doch nicht meine Schwester!«
»Sondern?«
»Meine Stiefmutter. Meine Eltern haben sich scheiden lassen und dann hat mein Vater diese Kuh geheiratet. Seit wir hier rausgezogen sind, setzt sie alles daran, mich loszuwerden. Aber da hat sie sich geschnitten, das wird ihr nicht gelingen. Ich bleib hier und mach ihr das Leben zur Hölle«, erklärte May finster.
Und dir selbst machst du das Leben auch zur Hölle, dachte Cara und fragte sich, ob Helena davon wusste. Ob sie von Mays junger Stiefmutter wusste und von ihrem Hass und ihrer Wut und ihrer Verzweiflung.
Vermutlich nicht. Über diese Dinge hatten sie ja nie gesprochen, die Freundinnen.
»Ich bin morgen bei Helena«, sagte Cara. »Soll ich sie von dir grüßen?«
»Tu das, bitte«, sagte May. »Und hör auf, mir nachzuspionieren.«
»Ganz bestimmt nicht. Ich will wissen, was du in der Mordnacht getan hast. Und ich werd es auch herausfinden.«
»Viel Spaß dabei«, sagte May und gähnte und dann verließ sie den Raum.
besuch
du kommst
legst
deine hand
an die scheibe
ich lege
meine dagegen
lege mich
mit dir an
17
In dieser Nacht hatte Cara keine Albträume. Weil sie nämlich gar nicht erst einschlief. Von Mitternacht bis drei Uhr morgens versuchte sie es vergeblich, danach knipste sie das Licht an und las bis zum Morgengrauen. Um halb sechs fiel ihr Kopf aufs Buch, aber schon eine halbe Stunde später riss sie ihr Radiowecker wieder aus dem Schlaf.
Sie stand auf und nahm eine kalte Dusche und kochte Espresso. Holte die Zeitung rein und blätterte sie durch. Tom war inzwischen im Regionalteil von Seite 1 auf Seite 4 gerutscht. Keine neuen Erkenntnisse – das war die knappe Botschaft, zu der sich der einspaltige Artikel zusammenfassen ließ.
Bei der Arbeit fragte sie Renzo, ob sie heute ausnahmsweise früher Schluss machen könnte. »Ich kann zum ersten Mal zu meiner Schwester.«
Er nickte hastig, vielleicht befürchtete er einen hysterischen Anfall, wenn er auch nur zögerte. »Natürlich. Sicher.«
»Und heute Mittag«, schob sie hinterher. »Kann ich auch ein bisschen früher in die Pause? Von zwölf bis um eins. Ich muss dringend was erledigen.« Er nickte wieder, diesmal wirkte er genervt. »Meinetwegen.« Und wollte noch etwas hinzufügen und schluckte es hinunter. Schüttelte nur den Kopf und verließ den Raum.
Sie wollte wissen, was May gemacht hatte, nachdem sie das Extra Dry verlassen hatte. Und dazu musste sie diesen Jürgen finden. Im Internet hatte sie die Adressen von sämtlichen Fotoläden in Geldern herausgesucht. Es gab drei Fotogeschäfte und zwei Fotostudios, aber keiner der Besitzer hieß Jürgen. So viel wusste sie bereits. Sie würde trotzdem alle Läden abklappern. Und wenn es diesen Jürgen gab, würde sie ihn ausquetschen, und wenn es ihn nicht gab, würde sie direkt zu Frau Sonntag marschieren und sie so lange löchern, bis sie ihr verriet, ob May wirklich ein Alibi hatte.
Der Typ hatte etwas mit dem Mord an Tom zu tun, nach der schlaflosen Nacht war Cara sich ganz sicher. Vielleicht hatte er May geholfen. Vielleicht war sie auch einfach nur mit ihm nach Hause gegangen und hatte mit ihm geschlafen. Aber wenn es so war, warum hatte sie es Cara dann nicht erzählt?
Bei Foto-Schucke stand eine ältere Frau hinter der Ladentheke und schüttelte ratlos den Kopf, als Cara nach einem Jürgen fragte. Das gleiche Spiel bei Kaiser Foto-Galerie. Jürgen? Arbeitet hier nicht. Der Photo-Shop am Markt erwies sich ebenfalls als Fehlanzeige. Den Laden gab es gar nicht mehr. »Hat schon vor fünf Monaten dichtgemacht«, erklärte die junge Dame in dem Nagelstudio, das jetzt hier untergebracht war.
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