In guten wie in toten Tagen
nicht mehr nach Hause, dann wollte sie irgendwohin, wo wir allein miteinander wären.«
»Und da haben Sie ihr den Gefallen getan.«
Cara wandte die Augen ab, ihr Blick landete auf einem seiner Fotos, ein kleiner nackter Junge, der auf einem Lammfell saß und lachte. Daneben das gleiche Kind auf einem Schaukelpferd. Vielleicht war es sein Sohn.
»Wir sind in den Wald gefahren, aber da ist nichts gelaufen. Sie hat angefangen zu weinen. Und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Ich hab versucht, sie runterzubringen, sie zu beruhigen, aber es ging nicht. Am Ende hab ich sie einfach gelassen. Hab ihre Hand gehalten.« Er lachte. »Die Hand. Mehr hab ich nicht berührt. Aber das glaubst du mir natürlich nicht.« Er verdrehte die Augen. »Ich würd’s mir ja selber nicht abnehmen.«
»Warum hat sie geweint?«, fragte Cara.
»Es ging um einen Kerl, einen Typ, in den sie verliebt war, aber er wollte sie nicht. Er wollte eine andere heiraten.«
»Tom«, sagte Cara.
»Genau. Für May war er die Liebe ihres Lebens. Sagte sie. Aber er wollte sie nicht. Sie kam trotzdem nicht von ihm los.«
Tom. Mays Gesicht, als sie in der Melody Bar mit ihm allein gewesen war. Und sein Gesicht, als er ihre Hand abgeschüttelt hatte. Sie war verrückt nach ihm gewesen. Genauso verrückt wie Ronja, nur dass sie es nicht zugeben wollte. Die starke, coole, selbstbewusste May. War unglücklich verliebt in ihren ehemaligen Lehrer.
Aber der stand nicht auf starke, coole, selbstbewusste Frauen. Er mochte unsichere, schwache Frauen, hatte Frau Ehlers gesagt.
Und Helena, dachte Cara. Helena hat er geliebt. Obwohl sie nicht schwach und unsicher war. Und das war der Punkt, der entscheidende Punkt, an dem sie ansetzen musste, wenn sie den Fall lösen wollte. Das spürte sie ganz genau.
»War’s das jetzt?«, fragte Jürgen.
»Sind Sie sich ganz sicher mit der Uhrzeit? Sie waren bis kurz vor vier mit May zusammen?«
»Ganz sicher. Aber wenn meine Frau mitkriegt, dass ich mit May in den Wald gefahren bin …«
»Schon klar«, sagte Cara.
»Sonst noch Fragen?«
Keine Fragen mehr, dachte Cara.
Weg hier, nur weg.
Sie hatte den Besuchstermin in der JVA um fünf Uhr abends. Maximale Besuchsdauer 30 Min. stand auf dem Besuchsschein, den man ihr im Amtsgericht unterschrieben und abgestempelt hatte.
In dubio pro reo, hatte Cara im Lateinunterricht gelernt – im Zweifel für den Angeklagten. Aber in der Untersuchungshaft schien dieser Grundsatz nicht zu gelten. Obwohl man noch nicht verurteilt, obwohl überhaupt noch nichts bewiesen war, wurde man behandelt wie ein überführter Verbrecher. Schlimmer sogar. Man durfte weniger Besuch empfangen und die Besuchszeiten waren kürzer.
Ein Wärter brachte sie in den ersten Stock, Raum 3. Vier Stühle, ein Tisch, auf dem eine Plastikscheibe befestigt war, damit sich Besucher und Insasse nichts zuschieben konnten. Grauer Fliesenboden. Der Geruch von Desinfektionsmittel, Essen, Verzweiflung in der Luft.
Sie trat ans Fenster und blickte auf die hohe Betonmauer, hinter der der Parkplatz lag und darum herum Wiesen und Felder. Die Justizvollzugsanstalt lag fast so idyllisch wie der Bauernhof von Mays Eltern.
Sie fuhr herum, als die Tür wieder aufging und eine Wärterin Helena hereinbrachte. Zu Caras Erleichterung trug sie keine Anstaltskleidung, sondern eine bunte Chiffonbluse und enge Röhrenjeans. Sie sah auch nicht besonders elend aus.
Keine Berührungen, hatten sie Cara vorher eingeschärft. Es fiel ihr jedoch unendlich schwer, nicht auf Helena zuzustürmen und sie zu umarmen.
»Kopf hoch, meine Kleine«, sagte Helena, als ob Cara es wäre, die unter Mordverdacht stand und im Gefängnis saß, und nicht sie selbst. »Das wird schon wieder.« Sie nahm auf der einen Seite des Tisches Platz, Cara setzte sich auf die andere. Die Polizistin, die sie hereingebracht hatte, setzte sich auf einen Stuhl an der Wand und faltete die Hände im Schoß.
»Ich hab dir was mitgebracht«, sagte Cara. »Schokolade und Gummibärchen. Und was zum Lesen. Aber ich musste es vorher abgeben. Sie wollen wohl nachgucken, ob ich eine Feile in den Gummibärchen versteckt habe.«
Helena lachte. Die Polizistin verzog dagegen keine Miene. Wahrscheinlich hörte sie den Scherz mit der Feile fünfmal am Tag.
»Eigentlich will ich gar keine Süßigkeiten. Ich hab bestimmt schon vier Kilo zugenommen, seit ich hier drin bin. Ich hab ja so gut wie keine Bewegung.«
»Geht’s dir denn gut?«, fragte Cara. »Ist dir immer noch so
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