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In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burnside
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andere in ihm sahen. Ich schaute mich nicht noch einmal um, weil ich nicht wollte, dass Maia mich nach ihr suchen sah, und doch konnte ich zehn, zwanzig Schritte lang hinter mir auf dem Pfad etwas spüren, etwas Dunkles, Schweres, das wie ein großer Raubvogel über meiner Schulter schwebte, bereit, jeden Moment zuzuschlagen; ich muss zugeben, dass dieses Gefühl so heftig wie beängstigend war. Natürlich hat allein meine Fantasie diesen Raubvogel hervorgebracht, das wusste ich, doch minderte mein Wissen keineswegs die Angst, die mich überkam, wenn auch nur wenige bange Sekunden lang, was nicht bloß beweist, wie gut Maia die von ihr gewählte Rolle zu spielen gelernt hatte, sondern auch, wie abergläubisch ich geworden war. Daran war natürlich Kyrre Opdahl schuld, und ich weiß noch, als ich unsere Einfahrt hinaufging und das Innentor zu Mutters knallig buntem, unglaublichem Garten öffnete, ich mich fragte, warum ich mich auf diese Komplizenschaft mit ihm eingelassen hatte, fast als wäre ich ein liebendes Kind, das nicht weiß, wie es einen exzentrischen, gar halb verrückten Großvater anders glücklich machen kann, als abends brav am Feuer zu hocken und seinen Geschichten von Kobolden und Teufeln zu lauschen, ein Kind, das sich nur deshalb in fremde, angsterregende Gefilde vorwagt, weil er dorthin ging und dies die einzige Weise war, ihm zu zeigen, dass er geliebt wurde.
    ***
    Heute gingen wir bis ans Ende der Welt. Es ist nicht weit, nur eine kurze Fahrt auf Kvaløyas andere Seite, dann über die Brücke und den Damm bis zum äußersten Zipfel von Hillesøy, wo man immer Kråkebolle findet, halb zerschmettert auf den Felsen, weiß und pudergrün oder mit fahlem, rosigem Hauch, der Seeigel selbst lange fort, verschlungen von einer Möwe, die ihn aus dem Wasser fischte und dann fallen ließ, damit die harte Schale tief unten auf den Felsen zerbrach. Als Mutter herzog, hat sie eine Studie über einen Seeigel angefertigt, hat die zerbrochene Schale mit ins Atelier genommen, auf eine weiße Tischdecke gelegt und es irgendwie geschafft, sie wie frisch zerschmettert aussehen zu lassen, die Brüche sauber, innen glitzernde Eingeweide, Gedärm, Salz und Wasser, zugleich so dicklich und durchschimmernd wie Austernmilch. Als wir herkamen, malte sie eine ganze Reihe von Stillleben, und auch wenn ich es damals kaum bemerkte, denke ich heute, dass sie so den Übergang von Porträts zu Landschaftsbildern zuwege brachte. Weshalb es nicht uninteressant ist, dass sie diese Bilder nie ausstellte. Viele sind natürlich kaum mehr als Skizzen, doch wurden einige Arbeiten auch zu Ende geführt – fast alle von eigenartig Beschädigtem, so wie die aufgebrochenen Seeigel oder ein Nest zerbrochener Eier, das sie am Strand gleich unterhalb von Kyrres Hytte gefunden hatte –, und die können es durchaus mit ihren übrigen Bildern aufnehmen.
    Heute suchte sie allerdings nicht nach Seeigeln oder zerbrochenen Muscheln. Sie ging nur bis ans Ende der Welt, stand eine Weile da und schaute über das Wasser. Den Namen haben wir uns ausgedacht: das Ende der Welt. Wir benutzen ihn, wenn wir diesen Ort meinen, ein Eintrag in der Kladde mit Wortspielen und Insiderwitzen, wie sie jede Familie besitzt; ein Ausdruck – zweifellos auch eine Bekräftigung – unserer gemeinsamen Anhänglichkeit an jene Zeit, in der wir auf diese Insel kamen. Eine Frau und ein Kind, neu in einer eigenartigen Gegend, in der wir niemanden kannten und unsere Zukunft ungewiss war; Tage, an denen diese Stelle, so weit westlich, wie man nur gehen kann, tatsächlich das Ende der Welt bedeutete. Zumindest war es das für meinen kindlichen Verstand, und ich war es auch, die diesem Platz den Namen gab, wobei ich teils an einen echten Ort, teils an die wahren Entlegenheiten manch alter Märchen gedacht hatte, in denen Schiffe über den Rand des Meeres fahren und Fremde verschwinden, ans Ufer der übernächsten Welt gespült. In den ersten ein, zwei Jahren kamen wir oft her, und ich wusste, es war ein Ort, an dem Mutter Zuflucht fand, Trost oder was immer sie brauchte, um herauszufinden, wie sie weiter vorgehen wollte. Danach gab es ihn noch, wenn wir ihn brauchten, nicht mehr so unbedingt notwendig, doch weiterhin bedeutungsvoll wie eine Burgruine oder ein Wallfahrtsort.
    Mutter ist allein wie nie zuvor, nun, da Kyrre Opdahl und Ryvold fort sind, doch scheint es ihr nichts auszumachen. Eigentlich wirkt sie sogar noch glücklicher – und in ihrem einsamen Glück fühle ich mich

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