In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
ich über die obere Wiese lief, anfangs kaum mehr als eine flüchtige Bewegung, dann eine menschliche Gestalt, die von üppiger Wiese zu kahlem Uferstrich wechselte. Ich nahm nicht an, dass sie mich gesehen hatte – erst später, als ich mir die Zeit nahm, diesen Moment Revue passieren zu lassen, drängte sich mir der Gedanke auf, dass sie vermutlich bereits gewusst hatte, dass ich da war, und zwar lang, ehe ich sie selbst wahrnahm, nur zog sie es vor, so zu tun, als wäre sie allein. Und falls das stimmte, dann zeigte sie mir etwas. Ich kann es nicht beschwören, aber ich glaube, sie wollte mir – weniger mir als vielmehr einem beliebigen Zeugen – zeigen, dass sie sich verändert hatte. Was zweifellos stimmte: Etwas an ihr war wirklich anders. Jenes Spiel, das sie gespielt hatte, dieser alte Bluff, ein Wildfang zu sein, damit war es vorbei; stattdessen strahlte sie eine immense, dunkle Ruhe aus. Nein, nicht Ruhe, sondern die Aura einer Person, die das Schlimmste gesehen und mit Erleichterung gemerkt hatte, dass es nicht so schlimm war wie befürchtet. Eine Erleichterung, die mit dem plötzlichen Begreifen einherging, dass sie nun tun konnte, wonach ihr der Sinn stand. Früher hatte sie verloren gewirkt – ein ungewolltes Kind, mit nichts als Wut und Stolz und der dürftigen Genugtuung, dem Ganzen mit tapferer Miene zu begegnen, doch nun hatte sie gesehen, wie zauberhaft es war, dieses Gefühl, nirgendwo hingehen zu müssen. Etwas war anders – und einen Moment lang hatte ich Angst um sie. Sicher, sie hatte ihre Spannung verloren und fing an, sich gehen zu lassen, doch ging sie Schrecklichem entgegen, und sie begegnete der Welt mit einer völligen Gleichgültigkeit gegenüber dem, was kommen mochte, ein wildes Mädchen mit in die Haut geätzten Traummustern und fahlen, düsteren Tieren, ein Geschöpf, das die Furcht und damit auch jede Hoffnung auf Erlösung hinter sich gelassen hatte.
Ich gestehe also, dass ich an jenem Tag, an dem ich sie sah, Angst um sie hatte und gleichwohl unwillkürlich spürte, dass etwas Unheilvolles von ihr ausging. Als ich sie dort sah, in diesem schaurigen Wechselspiel von Licht und Dunkelheit, konnte ich Kyrres Verdacht fast verstehen, auch wenn ich in Erinnerung zu behalten versuchte, dass das, was er die dunkle Seite in ihr genannt hatte, meist nur aufgesetzt war, ein Effekt, der durch eine Kombination von Selbstüberzeugung und anderer Menschen Leichtgläubigkeit angestrebt und erreicht wurde. Vielleicht hatte Maia irgendwann einmal eine gewisse Schattennatur in sich entdeckt, einen flüchtigen Hinweis auf den Keim einer Boshaftigkeit, der ihr so gut gefiel, dass sie ihn hegte und pflegte; vielleicht hatte sie während einer weißen Mittsommernacht beim Blick in den Spiegel auch etwas gesehen, was ihr zusagte, etwas, das immun gegen die zu Hause sonst übliche Missachtung zu sein schien. Jedenfalls kann ich mir gut vorstellen, dass sie – ob bewusst oder nicht – beschloss, diese Spur des Teufels zu hüten, die sie in ihrem Spiegelbild zu entdecken glaubte. Nur war sie nicht real – und an jenem Tag schien sie mir auch so gar nicht das zu sein, wofür Kyrre sie gehalten hatte. Nun, ich zweifle nicht daran, dass etwas Böses in ihr steckte – wie hätte sie auch ihr Leben in einem solchen Haus verbringen können, ohne ein wenig verbittert zu werden? Allerdings hatte die Zeit nicht gereicht, um dauerhaften Schaden anzurichten. Jedenfalls wollte ich das glauben, als ich sie allein auf der Wiese sah. Das Böse, sagte ich mir, das Unheilvolle war bloß aufgesetzt, und als sie ihre Pose einen Moment zu lang beibehielt, schüttelte ich den Kopf und wandte mich ab, bekümmert und beschämt; ich sah mich nicht einmal mehr um, als ich dem Pfad folgte und dann die Straße zu Mutters umgrenztem Reich überquerte. Ich schaute mich erst um, als ich den Birkenhain erreichte, wandte nur leicht den Kopf und warf aus den Augenwinkeln einen Blick dahin zurück, wo sie gestanden hatte, bloß um festzustellen, dass sie verschwunden war.
Ich fragte mich, wohin sie gegangen war, drehte mich aber nicht noch einmal um und glaubte auch nicht, dass sie, wie nach unserer letzten Begegnung, gleichsam durch Zauberhand verschwand. Jetzt, dachte ich, versteckt sie sich, spielt mir einen Streich, versucht, mich zu übertölpeln; also redete ich mir ein, dass sie harmlos sei, nur ein Mädchen, das für sich eine überzeugende Attitüde entdeckt hatte, teils – größtenteils – weil es dem entsprach, was
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