In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
ihr näher. Vorher war ich ein Kind und von ihr abhängig. Um meinetwillen konnte sie nicht ganz von dieser Welt lassen; nur für den Fall, dass die Umstände sie zurückzwangen, musste sie leben, als gehörte sie noch dazu. Natürlich war ich ein Teil dieser Umstände, denn solange ich aufwuchs, wusste sie nicht, wofür ich mich entscheiden würde, und nun, da ich darüber hinaus bin, sie darum zu bitten, bin ich mir ziemlich sicher, dass sie auf der Stelle und ohne ein Widerwort zurückgekehrt wäre – falls ich sie denn darum gebeten hätte. Seit ich mich entschieden habe und wir beide ohne Worte übereingekommen sind, den Rest unseres Lebens hierbleiben zu wollen, gibt sie allerdings auch auf keinerlei Weise zu verstehen, dass sie darüber erfreut oder erleichtert ist.
Früher hat Mutter uns hergebracht. Heute schlage ich den Ausflug vor, und ich bin es, die uns fährt, die den Wagen am letzten, einsamen Haus abstellt – jenem mit dem verfallenen Bootshaus nebenan, die Wände vom Wind bis aufs nackte Holz blank genagt. Von hier aus führt ein schmaler Pfad – einer jener Pfade, die sich durch Gestrüpp und Gestein schlängeln und eher animalischen als menschlichen Zwecken dienen – auf die andere Seite eines flachen Hügels, wo man von einem gefährlichen Uferrand, wo die kalte Flut anbrandet, einen Blick auf den weiten Himmel und eine See hat, die von Fastschwarz bis zu Veloursblau changiert. Ich weiß nicht, was Mutter denkt, wenn sie herkommt, doch geht mir jedes Mal kurz ein zweifellos absurder Gedanke durch den Kopf, der Gedanke, dass es all dies gab, ehe es uns gab, nicht nur Mutter und mich, sondern überhaupt alles – das Menschengeschlecht, die Völker, diese selbst ernannte Welt, die uns schon lang in sich zurückgeholt hätte, wären wir nur willens gewesen. Es ist der Gedanke an ein unvorstellbares Früher: das Meer frei von Schiffen, das Land frei von Gebäuden und Straßen, an den Stränden von hier bis Afrika ein einziger, endloser Schwarm Strandläufer, Seeschwalben, Austernfischer, Brachvögel, Uferschnepfen, Ibisse; dazu riesige Herden von Rentieren und Elchen, die bis hinauf nach Sibirien von Futterstelle zu Futterstelle ziehen, helle Birkenwälder voll Vogelgesang, Vielfraß- und Wolfsrudel, die sich über den hohen Schnee hinweg anheulen. Ich weiß, ich kann mir diese Zeit nicht richtig vorstellen; außerdem ist es nur ein Gedanke, der mich eine Nanosekunde lang durchzuckt, ehe er wieder verfliegt, doch ich trauere um diesen verlorenen Zustand und bedaure, dass unsere Verbindung dazu verloren ging, die alte Geschichten offenbar bewahren wollten. Denn solange wir an Geschichten von Trollen und Klabautermännern glaubten, eröffneten sie uns verschlungene, unebene Pfade zurück in jene Zeit, und im Gewebe der Geschichte geisterten uns hier und da Erinnerungen an einen Ort durch den Kopf, den wir nie gesehen haben – definitionsgemäß nie sehen, nie aufsuchen konnten. Heute dagegen wirken Geschichten – zumindest die Geschichte, die ich zu erzählen habe – nur seltsam, ein absurder, so gar nicht überzeugender Bericht einer Reihe tragischer Zufälle, erzählt von einer einsamen Frau, der man, wie sie selbst sagt, das zweite Gesicht zuspricht.
***
Nach und nach fing ich wieder an zu spionieren, wohl, weil es mir vertraut war; und nach meiner Englandreise brauchte ich Vertrautes. Allerdings interessierte mich nicht sonderlich, welch häusliche Arrangements Martin und Maia für sich gefunden hatten. Ich sah sie zusammen über die Wiesen spazieren, sah sie in Martins Auto steigen und gemeinsam fortfahren, sah sie spätabends draußen sitzen, wobei offensichtlich schien, dass Maia nicht daran dachte, woandershin zu gehen; aber mich kümmerte es längst nicht mehr, ob sie ein Liebespaar waren, denn da sie die alte tragische Geschichte nicht fortsetzten, die mir im Sinn umging, hatten sie mich eigentlich ein wenig enttäuscht. Trotzdem spionierte ich ihnen manchmal noch nach, während das Ende des Sommers nahte. Ich glaube, ich suchte Ablenkung: Nach meiner Rückkehr war ich fest entschlossen gewesen, jede Erinnerung an Kate Thompson auszulöschen, nur erwies sich das als nicht so leicht wie vermutet. Womit ich nicht sagen will, dass mich Arild Frederiksens Tod aufgewühlt hätte – doch was genau empfand ich? War ich betroffen? Fühlte ich mich irgendwie besudelt? Ja, das war es: Während meiner Unterhaltung mit Kate Thompson hatte ich irgendwann zugelassen, dass sie mir leidtat, und
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