In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
menschlichen Gestalt als Idee, als etwas Unspezifisches, beinahe Emblematisches. Soweit ich weiß, hat es Mutter nie etwas ausgemacht, dass dieses erste Phantom in ihrem Werk mich zum Vorbild nahm, so wie ihr offenbar auch nie der Gedanke kam, dass es mich beunruhigen könnte – und Tatsache ist, das hat es auch nie. Nicht so richtig. Früher einmal löste dieses Bild durchaus gemischte Gefühle in mir aus, nur sehe ich heute kaum hin, wenn ich auf mein Zimmer gehe, es verlasse oder mich in den alten Ulmensessel setze, den Mutter eigens für diesen Platz auf dem Treppenabsatz gekauft hat. An manchen Tagen sitze ich hier, blicke über die Wiesen auf das Wasser und glaube, allein auf der Welt zu sein. Wenn ich aber auf dem Treppenabsatz bin, ganz für mich, beachte ich das Bild kaum und sehe in dem Mädchen auch nicht länger mich, selbst wenn sich die Ähnlichkeit nicht leugnen lässt. Für Mutter ist alles Form, ein mögliches Sujet, das beobachtet und durch ihre Imagination verwandelt wird, und es gibt keinen Grund, warum ich anders darüber denken sollte.
Trotzdem weiß ich nicht, warum sie dieses halb fertige Bild aufbewahrt. Keines ihrer übrigen Gemälde hängt im Hauptteil unseres Hauses; sie werden ins Atelier am anderen Ende des Treppenabsatzes eingesperrt und hinter verschlossenen Türen gehalten, da, wo niemand sie sieht, bis sie eingepackt und von einem Mann abgeholt werden, der – laut Mutter – wie ein Mörder aussieht und außer mit ihr mit keinem Menschen redet. Dieser Mann, dessen Namen ich nie erfahren habe, arbeitet für Dag Fløgstad, den Galeristen, der Mutter sämtliche Arbeiten abnimmt, und so lang ich mich erinnern kann, kommt dieser Mann in unser Haus, fährt den weiten Weg von Oslo hierher und übernachtet unterwegs bei seiner Schwester in Mo I Rana. Er ist bloß ein Lieferant, und doch ist er der Einzige, dem es erlaubt ist, Mutters eigentliches Haus zu betreten, jenes Haus, das wie ein Kern in dem Traumhaus ruht, das sie sich darum herum geschaffen hat, und obwohl er nicht einmal ahnt, was für Privilegien er genießt, ist er für Mutter in gewisser Weise realer als die Freier, die jede Woche kommen, denen aber nie erlaubt wird, auch nur einen Fuß auf die Treppe zu setzen, geschweige denn durch die Tür ins Atelier vorzudringen. Das ist Mutters Höhle, ihr geheimer Ort, ein leerer, weiß gekalkter Raum mit einem einzigen, nach Norden weisenden Fenster, ohne Möbel bis auf eine Chaiselongue und ein paar wacklige Holzstühle – hier findet ihr wahres Leben statt.
Niemand außer mir. Und mir ist es auch nur zu besonderen Gelegenheiten gestattet. Einstmals, als ich nicht nur ihre Tochter, sondern für sie auch ein interessantes Sujet war, durfte ich jeden Tag kommen, und mit dem Blick auf das weite, nach Norden gerichtete Fenster musste ich stundenlang stillstehen, während sie daran arbeitete, mich in eine Idee zu verwandeln, in etwas, das endgültig sein und somit für immer währen würde ; zumindest sah ich es damals so, als sie den Geist meiner selbst einfing und auf die Leinwand bannte. Ich habe keine Ahnung, warum das Bild nie beendet wurde: Eines Tages erklärte sie umstandslos, dass ich nicht mehr Modell zu stehen brauche, und als ich fragte, ob das Bild denn fertig sei, antwortete sie, das sei es nicht. Nicht ganz. » Irgendwas klappt nicht. Ich muss es eine Weile liegen lassen und mache mich später noch mal dran.«
Sie wirkte ruhig, und ich hatte keinen Anlass, an ihren Worten zu zweifeln, dennoch spürte ich, dass sie mir nicht die ganze Geschichte erzählte. » Warum?«, fragte ich. » Was stimmt damit nicht?«
Sie lächelte. » Es ist alles bestens. Ich brauche nur eine Pause.«
Anfangs hatte ich mich nicht gerade darum gerissen, ihr Porträt zu sitzen, doch als sie das Bild nun beiseiteräumte, konnte ich meine Enttäuschung nicht verbergen – und auch nicht dieses Gefühl im Hinterkopf, irgendwie versagt und nicht dem Bild entsprochen zu haben, das sie gesucht hatte. » Und?«, fragte ich. » Kann ich es sehen?«
Sie schüttelte den Kopf. » Noch nicht. Erst wenn ich herausgefunden habe, woran es liegt, und auch dann erst, wenn es fertig ist.«
Nur wurde es nie fertig, und soweit ich weiß, hat sie auch nie wieder daran gearbeitet. Es war ihr letztes Porträt – zumindest das letzte bis zu jenem Sommer, in dem sie in einigen raschen Sitzungen die Huldra malte –, und es blieb monatelang im Atelier, fortgesperrt in einen Schrank, zu dem sie allein den Schlüssel
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