In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
besaß. Eine Zeit lang fragte ich mich, was schiefgelaufen war, und nahm an, es liege irgendwie an mir, doch schien sie nicht weiter daran zu denken, und am Ende jenes lang vergangenen Sommers hatte ich das Bild schon fast vergessen. Mutter nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es nicht wieder angerührt hat, und selbst ein flüchtiger Blick verrät, dass es alles andere als fertig ist. Der Hintergrund wurde vollständiger als die dargestellte Person ausgearbeitet, doch auch unter den Sommergräsern und Wildblumen herrscht der Eindruck vor, es fehle etwas, das auf Anhieb offensichtlich und doch zugleich subtil ist. Man sieht, dass irgendwas nicht stimmt, nur was genau, das lässt sich unmöglich sagen – und ebendies macht das Bild so beunruhigend. Das Mädchen – nicht ich, sondern das Mädchen, das Mutter sich für dieses bestimmte Werk vorstellte – hat ein mehr oder minder vollendetes Gesicht, und man sieht, dass es unter dem grauen Kleid ein Hemd oder eine rostrote Bluse trägt, doch ihm fehlen die Hände, und es fügt sich nicht recht in die Umgebung, während darumherum, in der Luft und in den Wiesenpflanzen zu seinen Füßen, mehrere Dutzend Lücken und unfertige Striche zu erkennen sind, die den Eindruck erwecken, als wäre dies weniger ein unfertiges Bild – das, fände man nur die nötige Zeit, noch vollendet werden könnte – als ein Versuch, das unfertige und erschreckend vergängliche Gewebe der Dinge selbst wiederzugeben, ein Versuch, wissentlich oder unbewusst, den Betrachter sehen zu lassen, dass nichts von Dauer ist. Ein recht gewöhnlicher, fast schon banaler philosophischer Gedanke – einer, den Mutter niemals auch nur in Worte gefasst hätte –, aber ziemlich verstörend, wenn er sichtbar gemacht wird in einem Bild, das auf den ersten Blick doch nur das Porträt eines jungen Mädchens zu sein scheint. Besonders verstörend, vermute ich, wenn man selbst Modell saß und die eigene Mutter die Malerin ist. Und ich muss nicht nur daran denken, dass Mutter dieses Werk aus einem bestimmten Grund unvollendet ließ – ohne sich je die Mühe zu machen, mir diesen Grund zu erklären –, sondern auch daran, dass sie es später, in den dunklen Stunden des folgenden Winters, als ich in der Schule war, herausgeholt und auf den Treppenabsatz gehängt hat, direkt vor meine Tür, was sie gleichfalls aus einem bestimmten Grund tat, den sie nur teilweise verstand, dessen Logik sie dennoch nicht widerstehen konnte. Mir fiel das Bild gleich auf, noch am selben Abend, als ich aus Tromsø nach Hause kam, und ich wollte spontan nach unten laufen und Mutter danach fragen, tat es aber nicht. Ich verweilte gerade lang genug, um in dem seltsamen Bild zu erkennen, dass Mutter, als sie es an diesen sorgsam ausgesuchten Platz hängte, mir ein Geschenk machte, das sie nicht erklären, mir aber ebenso wenig vorenthalten konnte. Ein düsteres Geschenk, mag sein, nichtsdestotrotz ein Geschenk. Als sie mich eine Stunde später zum Abendessen rief, verloren wir beide kein Wort darüber, da es keines dieser Geschenke war, über die man redete oder für die man sich gar bedankte. Manche Geschenke sind so. Man gibt sie stumm und nimmt sie stumm entgegen, fast, als wollte man sie verheimlichen, und auch wenn sie noch so unerklärlich und seltsam sein mögen, werden sie doch niemals wieder erwähnt.
***
Den Rest des Tages verbrachte ich damit, mir Bildbände anzusehen. Ich wusste, dass Mutter arbeitete, und wollte sie nicht stören. Also aß ich eine Kleinigkeit, um bis zum Abendessen über die Runden zu kommen, das es um sieben, vielleicht aber auch erst um neun geben würde, suchte mir dann aus den Regalen im Flur einen Armvoll Bücher zusammen – Harriet Becker, Christian Krohg, Robert Robinsons Captured by the Norwegians – und zog mich damit auf mein Zimmer zurück. Bilder anzuschauen war eine Angewohnheit, die ich mir in jenem Sommer zulegte. Dabei kümmerte mich das Genre nicht. Fotografien, Illustrationen oder die Reproduktionen alter Meister. Ich hätte auch gern gelesen, aber das ging nicht. Sooft ich einen Versuch machte, fing ich an, mich zu fragen, was aus meinem Leben werden sollte. Welche Universität, welche Studienfächer, welche Laufbahn. All die typischen Fragen für jemanden in meinem Alter – Fragen, die mich nicht im Mindesten interessierten, aber plötzlich sehr drängend schienen. Ich hatte angestrengt für die Schule gearbeitet und war immer eine gute Schülerin gewesen, doch jetzt, nach
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