In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
Jahren mit Büchern und Prüfungsvorbereitungen, konnte ich einfach nicht mehr lesen, weil ich nicht mehr wusste, wie man liest, ohne sich Notizen zu machen. Ich konnte mir nur noch Bilder ansehen – und es gab abertausend Bilder. Mutter besaß eine riesige Sammlung illustrierter Bücher: Monografien über ihre Lieblingsmaler, Prachtbände über die Geschichte der Druckkunst und Fotografie, mehrere Regale voll alter Kinderbücher mit wunderbaren Illustrationen, Kunstbücher auf Norwegisch, Englisch oder Französisch, Bücher in Sprachen, die ich nicht einmal dem Namen nach kannte. Die Romane, Lyrikbände und ledergebundenen Dramen von Ibsen bewahrte Mutter unten auf, und an grauen Winternachmittagen sah ich sie oft zusammengerollt auf einem Sessel, versunken in David Copperfield oder Die Wildente, aber die Regale, die beide Wände am Treppenabsatz säumten, von meinem Zimmer auf der einen bis zur Tür zum Atelier auf der anderen Seite, enthielten fast nur Bildbände. Wahrscheinlich wollte Mutter sie in der Nähe haben, um tagsüber rasch etwas nachschlagen zu können. In diesem Sommer arbeitete ich mich fast durch die gesamte Sammlung, nahm fünf, sechs Werke auf einmal aus dem Regal, blätterte langsam darin herum und studierte Bilder von viktorianischen Weihnachtsfeiern und holländischen Höfen, Stillleben mit Austernschalen und halb geschälten Zitronen, farbintensive Selbstporträts, Landschaften und anatomische Studien. Ich wusste nicht, wonach ich suchte, doch gab es Momente, in denen ich spürte, dass ich kurz davor war, etwas zu finden – natürlich nicht die Antwort auf eine spezifische Frage oder einen Fingerzeig, was ich mit meinem Leben anfangen könnte, aber etwas, das sich mit Worten nicht fassen ließ, ein innerer Wetterumschlag, eine neue Atmosphäre oder Stimmung, die es mir erlaubte, diese Dinge zu meinen Bedingungen zu erwägen. Denn so ungern ich auch ernstlich darüber nachdachte, wusste ich doch, dass es eine Zukunft geben würde, und ich würde darin eine Rolle übernehmen müssen. Nur wollte ich mich erst damit befassen, wenn ich so weit war, und ich weigerte mich zu tun, was man von mir erwartete. Ich wollte mich frei entscheiden. Heute gibt es Augenblicke, in denen ich fast mit einer Art Bewunderung auf jenes Mädchen zurückblicke, das ich damals war, wenn auch nur, weil es auf vielerlei überraschende Weise wusste, um wie viel schwerer eine freie Entscheidung fällt, als man gemeinhin vorgibt.
Die Zeit verging rasch, und es wurde acht Uhr, ehe Mutter auftauchte, um uns etwas zu essen zu machen und mich zu fragen, wie mein Tag gewesen war. Wir hatten uns seit dem Abend zuvor nicht mehr gesehen, was nicht ungewöhnlich war, doch merkte ich ihr an, dass sie etwas beschäftigte. Kaum waren wir mit dem Essen fertig, verschwand sie wieder im Atelier, vermutlich für eine weitere lange Nacht: Sie arbeitete an etwas Großem, und obwohl sie kaum darüber redete, kannte ich sie gut genug, um die Anzeichen zu deuten und als Erstes mit dem wie besessenen, schlaflosen, geistesabwesenden Zustand zu rechnen, der sie bis zum Ende ihrer Arbeit anspornen würde, und danach, wenn sie sicher wusste, dass das Werk getan war, mit den sich anschließenden ein, zwei Tagen Ernüchterung und Ruhelosigkeit – einer Stimmung, die sie stets zu verbergen trachtete, auch wenn es ihr nie recht gelang.
Das machte mir jedoch nichts aus. Früher, als ich noch jünger war, hatte es das getan, aber jetzt sah ich sie gern so beschäftigt, weshalb ich ihr sagte, dass ich den Tisch abräumen und abwaschen würde, damit sie sich gleich wieder an die Arbeit machen könnte. Sie lächelte. » Danke«, sagte sie. Ich liebte dieses Lächeln. Es war nicht das prachtvolle Lächeln, das sie den Freiern oder den zwei, drei Journalisten vorbehielt, die in unser Haus kamen. Nein, in diesem Lächeln lag nichts Angestrengtes, keine Zurückhaltung. Es war einfach nur ein Lächeln.
» Ist schon in Ordnung«, ergänzte ich. » Ich weiß ja, wie beschäftigt du bist.«
Sie nickte. » Und du?«, fragte sie. » Was machst du?«
Ich wollte zurücklächeln, aber mir fiel das Lächeln nicht leicht, und ich konnte es auch nicht besonders gut. Als ich noch klein war, hat sie oft lauthals über mich gelacht und schockiert getan angesichts meiner Ernsthaftigkeit – auch wenn ich vermute, dass sie es nur für eine Phase hielt, die ich bald hinter mir lassen würde. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ich so blieb. » Ich mache den Abwasch«,
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