In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
sie auf dem Schiff fuhren oder ihr Flugzeug in Tromsø zur Landung ansetzte, hatten sie noch gewusst, warum sie kamen, hatten die Gründe gekannt, die sie sich ausgedacht und beiläufig in Gesprächen wiederholt haben, jene Gründe, die all dies sinnvoll machten; doch in der weißen Nacht verflüchtigten sich diese Gründe.
So muss es auch für Martin Crosbie gewesen sein. Alles war ungewohnt, und nach der ersten schwachen Ahnung des Wiedererkennens erschien ihm unser Haus ebenso fremd wie alles andere. Nichts war, wie er es sich vorgestellt hatte – und wie so viele Besucher vor ihm begann er zu vermuten, dass es hier rein gar nichts gab. Kvaløya war eine Fata Morgana, nichts sonst, die gesamte Inselkette eine Illusion. Wie er da an seinem ersten Abend an unserem Gartentor stand, wird er angenommen haben, er habe eine weite, lang ersehnte Reise umsonst gemacht, sei den weiten Weg gefahren, um im Nichts zu landen. Mir schien er eine ganze Weile dort zu stehen, unser Haus anstarren und zu hoffen, es möge real sein, dabei waren es vermutlich nur zwei, drei Minuten – und obwohl ich auf dem Treppenabsatz gut sichtbar sein musste, war doch unverkennbar, dass er mich nicht entdeckt hatte. Solange er dort verharrte, starrte er mich direkt an und sah doch nichts. Nichts und niemanden. Dann drehte er sich um und ging den Weg zurück, ohne sich noch einmal umzuschauen – und unwillkürlich kam mir der Gedanke, dass in ihm bereits der Verdacht keimte, nichts von dem, was er in seinem Leben je gesehen hatte, ob hier oder irgendwo sonst, sei real gewesen.
Ein Sommermorgen. Ich habe gerade einen langen Spaziergang quer über die Wiesen hinab zum Strand gemacht und auf dem ganzen Weg gespürt, wie allein ich bin, nun, da alle fort sind. Mutter ist natürlich noch hier und malt wie eh und je in ihrem Atelier – perfekt, still, wunschlos glücklich. Sie hat lang und hart gearbeitet, um diesen Zustand zu erreichen, und auch wenn der Rest der Welt glaubt, sie habe ihn schon vor einiger Zeit erlangt, weiß ich, dass sie gerade erst dort angekommen ist. Ich weiß es, weil ich sie mein Leben lang beobachtet habe, auch schon, bevor ich wusste, was ich tat, und nun, da ich sie so gut kenne, beginne ich zu begreifen, was sie das Erlangen dieses Zustands gekostet hat. Seltsam ist nur, dass ich ebenfalls dort bin, an exakt demselben Ort, in exakt demselben Zustand, und ich kann allen Ernstes behaupten, dass es mich nichts gekostet hat. Dazu kam es vor zehn Jahren in jenen hellen Sommernächten, in der so viele ertranken, und fast alles, was seither passiert ist, widerfuhr nicht mir, sondern jemand anderem. Mir geschah bloß, dass ich mich eines Tages entschied, unsichtbar zu werden. Nicht wie Mats und Harald zu gehen, auch nicht wie Martin Crosbie, der so weit von daheim fortfuhr, um sein recht theatralisches Verschwinden zu inszenieren. Nein: Ich bin auf diesen Wiesen geblieben, am Ufer des Malangenfjords, wo ich schon immer war, und ich habe überhaupt nichts getan; zumindest nichts anderes, als mich für das Leben zu entscheiden, das ich nun führe, ein Leben, von dem manch einer sagen würde, es sei keines. Keine Karriere, kein Ehemann, kein Liebhaber, keine Freunde, keine Kinder. Ich bin auch keine Künstlerin wie Mutter, jedenfalls keine Künstlerin herkömmlicher Art. Ich bewirke nur, dass Dinge geschehen, doch es sind Dinge allein um ihrer selbst willen, und ich würde niemals so tun, als hätte ich etwas zu sagen. Ich schaue einfach über die Wiesen, über das Wasser, und ich passe auf. Keine Ahnung, wo ich die Worte zuerst gehört habe – vielleicht bei einer Shakespeare-Aufführung –, doch erinnere ich mich, wie ergriffen ich davon war, von diesen Worten, die für mich in keinerlei weltlichem Kontext stehen, Bruchstücke aus einem Theaterstück oder einem Roman, in dem sie vorkamen: Spione Gottes. Absurd, das gebe ich gern zu, doch bleibt für mich der Eindruck, dass diese Worte mich präzise beschreiben. Ich bin eine Spionin Gottes. Ich glaube nicht an Gott, zumindest nicht auf die übliche Weise, doch denke ich, dass ich aus einem bestimmten Grund hier bin, und der ist aufzupassen. Zu beobachten. Es gab einmal einen mexikanischen Stamm, dessen Mitglieder jede Nacht abwechselnd den Untergang der Sonne beobachteten, um dann im Dunkeln Wacht zu halten, bis sie wieder aufging – und sie setzten nie voraus, dass die Sonne wiederkehren würde, sie fanden es nie selbstverständlich. Sie hielten abwechselnd Wache, und sie
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