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In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burnside
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glaubten, der wahre Grund, weshalb die Sonne jeden Tag wiederkehre, habe weder mit der Schwerkraft zu tun oder damit, wie die Erde sich um ihre Achse drehte. Sie dachten, es sei allein ihre Aufmerksamkeit, die sie zurückholte – und ich lebe Tag und Nacht in einem ähnlichen Zustand der Aufmerksamkeit, einer leichten, komfortablen Aufmerksamkeit, die keinerlei Zweck kennt. Mutter findet sie gewiss merkwürdig, muss sie doch unwillkürlich aus allem, was sie hört oder sieht, etwas Neues machen. Ich dagegen spüre keinen Wunsch, irgendwas zu machen, irgendwas zu schaffen. Ich bin nur schlicht und einfach eine Zeugin, eine ungebundene, lebenslange Spionin.
    Allerdings war ich damals eine andere Art Spionin. In jenen Tagen beobachtete ich Leute, und das vor allem, weil sie mir ein Rätsel waren. Ihre Sehnsüchte, ihre Ängste, was sie sich wünschten und womit sie davonzukommen hofften, die Geschichten, die sie erzählten, und jene, die sie sich nicht erzählten – all das fand ich merkwürdig, weshalb ich sie, da ich sie verstehen lernen wollte, von Weitem mit dem Fernglas oder durch das Teleobjektiv meiner Kamera beobachtete. Vielleicht aber wollte ich auch verstehen lernen, warum ich nicht so war wie sie. Sie hingen an Dingen, für die ich keine Verwendung hatte, nahmen die Welt wortwörtlich und schienen das, was sie haben wollten, nur deshalb zu wollen, weil dies nun einmal die vorgeschriebenen Objekte des Begehrens waren. Ich schätze, genau das interessierte mich damals, nur habe ich deshalb nicht spioniert, jedenfalls nicht ausschließlich deshalb. Der eigentliche Grund, warum ich die Menschen beobachtete, warum ich zur Spionin wurde, war die Überzeugung, dass mit mir etwas nicht stimmte, und ich wollte wissen, was es war. Ich wollte verstehen, warum ich überhaupt nichts wollte.
    In jenem Sommer glaubte ich noch, Spionieren sei ein Spiel, das ich spielte, weil ich die Menschen so traurig und so amüsant fand, insbesondere Kyrres Gäste. Natürlich – schließlich war ich achtzehn – gefielen mir die traurigen Seiten mindestens so gut wie die amüsanten, falls nicht besser. Nur Martin Crosbie wollte ich nicht bespitzeln, zumindest nicht, nachdem er mir an unserem Gartentor erschienen war. Den genauen Grund dafür hätte ich nicht nennen können, doch war da etwas in seinem Gesicht, das mich drängte, ihn in Ruhe zu lassen, etwas Verborgenes, das ich nicht verstand, aber deutlich sah, auch schon an jenem ersten Abend, als er zu meinem Fenster hinaufblickte, mich direkt anschaute und doch niemanden bemerkte. Am nächsten Morgen war mir nicht danach, ihn vom Treppenabsatz aus dabei zu beobachten, wie er zwischen Auto und Hytte hin und her ging und Kisten mit Flaschen und Lebensmitteln ins Haus trug. Ich wollte nicht wissen, was in den Tüten war, die er aus dem Kofferraum holte, oder welche Bücher er las. Ich wollte gar nichts über ihn wissen. Nur hatte ich die halbe Nacht nicht geschlafen, und ich langweilte mich, außerdem kam es mir gar nicht wie spionieren vor, als ich zum Fernglas griff, um es erst auf die Wiesen zu richten und dann langsam, einen Meter nach dem anderen, über die leuchtenden Wogen von Sommergras zu Martin Crosbies Auto wandern zu lassen, das mit offenen Türen auf dem Platz stand, den Kyrres Lieferwagen gestern eingenommen hatte und in dessen Kofferraum und Wageninnern sich Gepäck unterschiedlichster Art stapelte. Durch das Fernglas konnte ich einen Teil des Inhalts der Kisten und Tüten erkennen: Da gab es jede Menge Bücher und fast ebenso viele Flaschen diverser Formen und Größen, eine Kameratasche, einen Haufen CD s, und ihr Besitzer – ich kannte seinen Namen, weil Kyrre ihn tags zuvor genannt hatte, als er mir von der eigenartigen Vereinbarung erzählte, die er eingegangen war mit diesem Mann, der den ganzen Sommer bleiben wollte –, ihr Besitzer also, dieser Martin Crosbie, sah bei Tageslicht irgendwie anders aus, wacher und auch deutlich substanzieller, als er bei Nacht gewirkt hatte. Er arbeitete rasch, und obwohl einige Kisten ziemlich schwer aussahen, trug er sie scheinbar mühelos ins Haus – und die ganze Zeit redete er offenbar mit sich oder sang vor sich hin wie ein Kind, das mit sich beschäftigt ist und nicht ahnt, dass es beobachtet wird. Während er den Kofferraum ausräumte, hielt er nur einmal inne, setzte eine Kiste auf dem Autodach ab, zog eine kompakte, dunkle Flasche hervor und nahm einen kräftigen Schluck, ehe er weitermachte. Das war der einzige

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