In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
Puzzle aus Licht und Bewegung sein musste, ein endlos sich veränderndes Gewirr aus Grau, Silber und Salzblau, das sie in den langen weißen Tagen bis zur Mitternachtsdämmerung von Moment zu Moment neu deuten mussten. Ich hatte gelesen, dass sie ihr ganzes Leben so verbrachten, dass sie der Sommersonnenwende folgten, von Südargentinien Mitte Dezember bis zu diesen verstreuten Inseln hier im Juni, Juli, Geschöpfe der weißen Nächte, die beständiges Sonnenlicht brauchten, um ihre Beute im hellen Wasser aufspüren zu können. Ich liebte sie. Sie waren die schönsten Vögel an diesem Küstenabschnitt, doch das allein war es nicht, was mich faszinierte. Ich liebte an ihnen, dass sie völlig konzentriert waren und sich nicht ablenken ließen, dass sie scheinbar unermüdlich nach dem winzigsten Anzeichen für einen lebendigen Silberstreif im wogenden Geflimmer der Flut Ausschau hielten. Und dann, wenn sie entdeckten, was sie suchten, stürzten sie sich so rücksichtslos in die Tiefe, verschwanden so vollständig im Wasser, dass es aussah, als kehrten sie nie zurück, nur um gleich darauf wieder aufzutauchen und mit dem glitzernden, wundersamen Fang davonzuflitzen.
Ich blieb einen Moment stehen, um aufs Meer hinauszusehen. Die Luft war vollkommen klar, der Himmel von einem sanften, diesigen Blau, und den Strand entlang schwebten Vögel an ihren angestammten Plätzen, je einer über seinem sonnenbeschienenen Revier. Ich schaute mich um. Für mich war es unvorstellbar, dass dieser Ort jemand anderem gehörte, selbst wenn hier Sommergäste wohnten; zu sehr war er Teil meiner inneren Landkarte, die ich im Kopf mit mir herumtrug. Jemand hatte mitten auf den Rasen einen Liegestuhl gestellt, und im Gras daneben lag ein Teller mit einem halb gegessenen Croissant, doch wirkte der kleine Garten verlassen. Anfangs zog zweifellos auch der leere Stuhl meine Aufmerksamkeit auf sich, weshalb ich Martin Crosbie nicht bemerkte, der abseits in einem zweiten Liegestuhl vor Kyrres altem Bootshaus saß und mich beobachtete. Der seltsame Marie Celeste- Eindruck, der von diesem Ort ausging, hatte mich getäuscht, dieser absurde und ein wenig sentimentale Eindruck, jemand sei hier gewesen und wieder gegangen, womöglich, um niemals wiederzukehren. Und aus irgendeinem Grund löste dieser Gedanke ans Verschwinden ein seltsames, doch keineswegs unvertrautes Gefühl in meiner Brust und Kehle aus, ein Gefühl, das ich nicht recht benennen konnte, auch wenn es etwas mit Gerechtigkeit zu tun hatte, vielleicht auch mit einer irgendwie gearteten Erfüllung, so als wäre mir klar, dass ein Versprechen entgegen aller Erwartung eingehalten worden war.
Dieses Gefühl dauerte nicht länger als ein, zwei Sekunden – dann drehte ich mich um und sah ihn einige Schritte rechts von mir am Bootshaus sitzen. Er saß mit dem Rücken zur Tür und hatte bei meiner Ankunft allem Anschein nach in einem Buch gelesen. Mich überraschte, dass ich ihn dort nicht sofort bemerkt hatte. Er machte den Eindruck, als hätte er mich von Anfang an gesehen, und es war ihm anzumerken, dass er mich interessiert – vielleicht sogar ein wenig amüsiert – gemustert hatte und sich fragte, wie lange es wohl dauerte, bis mir aufging, dass ich keineswegs allein war. Jetzt aber, da es mir klar wurde, schien er sich plötzlich ein wenig zu schämen, so als hätte ich ihn dabei ertappt, wie er mir nachspionierte. Allerdings war seine Scham nur gespielt, und um dies deutlich zu machen, beugte er sich mit theatralischer Geste vor und nahm sich einen Moment Zeit, sich etwas zu überlegen, von dem er bereits wusste, dass er es mir sagen würde. Dann, als lüde er mich ein, an einer Unterhaltung teilzunehmen, die er bereits in seinem Kopf begonnen hatte, bemerkte er: » Hier steht, April sei der übelste Monat.«
Ich warf einen Blick auf das Buch in seiner Hand. Der Einband war nicht zu sehen, doch kannte ich die Zeile und schüttelte den Kopf. » Finde ich nicht.«
» Hier steht …«
» Januar«, unterbrach ich ihn und ließ mich auf sein Spiel ein, ohne zu wissen, warum. Dann schwieg ich einen Moment und tat, als müsste ich nachdenken. » Ja«, sagte ich schließlich, » Januar, keine Frage.«
Er lächelte. » Warum?«
» Dunkel. Kalt. Schneewehen auf dem Fensterbrett«, antwortete ich. Das Spiel machte mir nichts aus, falls es denn eines war. Damals fand ich es ziemlich harmlos – und vielleicht habe ich mich darin ja auch nicht völlig getäuscht. Andererseits mag es überraschen,
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