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In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burnside
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wie harmlos jemand aussehen kann, der am Strand sitzt und Gedichte liest.
    » Klingt schön«, sagte er.
    » Ist es auch«, erwiderte ich. » Bis man irgendwohin gehen muss.«
    Er überlegte einen Augenblick. » Stimmt«, sagte er dann. » Aber treibt Flieder aus der toten Erde?«
    Ich tat, als dächte ich darüber nach, und schüttelte erneut den Kopf. » Kein Flieder«, sagte ich. » Nicht im Januar.«
    Er lachte, auch wenn ich fand, dass es ein wenig traurig klang. Nur ließ sich bei Martin Crosbie nie leicht sagen, wie echt seine vorgeblichen Gefühle waren. Ich glaube, er hatte lang und hart daran gearbeitet, harmlos zu wirken, und ein bisschen Trauer nützte ihm sicher noch mehr als die Gedichte. » Und was ist mit April?«, fragte er.
    » Was soll damit sein?«
    » Ist der April übe l ?«
    » Nein«, sagte ich. » Der April ist eisig. Genau wie die vorhergehenden fünf Monate. Hier fängt es erst im Mai an zu tauen.«
    » Und dann ist es – so wie jetzt …« Er blickte zum Himmel auf. » Was in gewisser Weise auch ziemlich übel ist, fürchte ich.«
    Unwillkürlich runzelte ich die Stirn. » Übel?«
    Er musterte mein Gesicht, als dächte er, ich hielte geheimes Wissen zurück, das er brauchte, um an seiner neuen Wohnstatt überleben zu können. Es war ein merkwürdiger Blick, sanft, aber ein wenig vorwurfsvoll, zumindest misstrauisch, ein Blick, der mich beinahe beleidigte, allerdings nur beinahe. Obwohl ich ihn noch gar nicht kannte, hatte ich doch bereits erraten, dass Martin Crosbie kein Mensch war, der beleidigte, da er ein ziemlich kompliziertes System von Gesten und stimmlichen Nuancen entwickelt hatte, das ihm half, Derartiges zu vermeiden; zudem sah ich es ihm an, auch wenn ich lang brauchte, bevor ich den Grund dafür erkannte. Schließlich sagte er bloß: » Es ist so weiß«, als wäre dies eine ausreichende Erklärung.
    Ich nickte. » Stimmt, es ist Sommer.«
    » Sommer?« Aus seinem Mund klang es wie eine völlig neue Idee. » Ich schätze, das ist es. Aber es ist noch mehr. Ich fühle mich anders … seltsam …« Er dachte eine Weile darüber nach, dann blickte er mich an, als hätte er eine wissenschaftliche Beobachtung gemacht, die er mir nun erklärte, eine, die unter Umständen ziemlich bedeutsam war. » Ich fühle mich mir selbst fremd«, sagte er. » Meine Hände fühlen sich anders an. Ich klinge anders .« Er lachte verlegen, was ihn ebenso zu überraschen schien wie mich. » Ich klinge anders, wenn ich rede. Wenn ich mich bewege. Alles ist hier fremd. Ich finde mich kaum zurecht.«
    Nun war es an mir, ihn zu mustern – und zum ersten Mal fielen mir die dunklen Ringe um seine Augen auf. » Ach, ja.« Urplötzlich packte mich ein Anfall gänzlich ungewollten Mitleids – und ich unterstellte ihm sofort, dass seine ganze Scharade nur darauf abgezielt hatte. » Ich schätze, Sie können auch nicht schlafen.«
    Er nickte und kniff die Augen ein wenig zusammen, sagte aber nichts. Er wirkte müde, doch litt er nicht nur unter Schlaflosigkeit, und einen Moment lang meinte ich, eine leichte Alkoholfahne zu riechen. Mir fielen die Flaschen ein, die er aus dem Auto geholt hatte, und ich sagte mir, dass er nicht der erste Sommergast wäre, der dem Suff verfiel, weil er sich einige Stunden Schlaf versprach – und wer wollte ihm das zum Vorwurf machen? Jeder auf diesen Inseln weiß, was einem der schlaflose Verstand vorgaukeln kann, denn wir haben hier alle schon Panik geschmeckt, auch wenn wir es nicht zugeben. Ehrlich gesagt, ich würde keinem Menschen trauen, der sie nicht kennt.
    Doch obwohl sich Martin Crosbie ein wenig eigenartig benahm, kam er mir nicht betrunken vor; vielmehr schien er woanders zu sein, in einer anderen Welt oder einer anderen Zeit – und im Nachhinein verstehe ich, dass es ihm an jenem Tag gelang, eine tapfere Miene aufzusetzen, weil er, als ich auftauchte, wohl tatsächlich kurz davor gewesen war, in Panik auszubrechen. Er hatte versucht, sich mit dem Buch abzulenken, und mag sein, er hatte sich auch ein, zwei Drinks gegönnt, doch wuchs tief in ihm panische Angst – Angst vor der Weite, Angst vor der Zeit. Vor allem vor der Zeit. Wie sie anders zu vergehen beginnt, wenn man eine Weile sitzt und alles langsamer wird, bis es sich anfühlt, als könnte sie jeden Moment stehen bleiben. Wie sie sich an einem Sommermorgen oder in der weißen Dämmerung sammelt und dann aussetzt, so dass man die Uhr anstarren möchte, bloß um sicherzugehen, dass der Sekundenzeiger sich

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