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In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burnside
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noch bewegt. Wie sich diese uralte Panik hinter den Augen anstaut – und wie einen dann, wenn jemand vorbeikommt und alles gerade in Stillstand zu erstarren droht, absurde Dankbarkeit überkommt, die man verzweifelt zu verbergen versucht, damit man nicht allzu trottelig oder hilfsbedürftig wirkt. Nun, an dem Tag damals sorgte ich für die Unterbrechung, und einen Augenblick lang wusste ich es auch, so wie ich wusste, dass Martin Crosbie meine Anwesenheit für einige Sekunden völlig vergessen hatte. Erst als er das Buch beiseitelegte, offen und mit dem Einband nach oben, damit es ihm nicht die Seite verschlug, schien er mich wieder zu bemerken – und dann lächelte er, ein sanftes, beinahe rührselig wirkendes Lächeln, wie man es ansonsten für Babys und exzentrische Haustiere parat hält. Mir fiel auf, dass es sich bei dem Buch gar nicht um die Gedichte von T. S. Eliot, sondern um eine englische Übersetzung von Ibsens Der Volksfeind und andere Stücke handelte. Martin Crosbie richtete sich in seinem Stuhl auf und sagte etwas, ebenso zu sich selbst wie zu mir, doch konnte ich ihn nicht verstehen. Keine Ahnung, wieso. Er sprach mit leichtem Akzent, Yorkshire, möglicherweise auch Schottisch – Mutter hätte es gewusst –, aber der Akzent war nicht das Problem, und unter normalen Umständen verstand ich Englisch mühelos. Nein, er war nicht wegen des Gesagten schwer zu verstehen, sondern wegen seiner Art zu reden. Es war, als wäre er von den eigenen Worten nicht überzeugt und wollte sie, noch während er redete, wieder tilgen, als wünschte er, es gäbe eine andere Möglichkeit, das auszudrücken, was ihn beschäftigte. Er sprach leise und zugleich seltsam unscharf, fast wie jemand, dessen Stimme aus einem schlecht eingestellten Radio dringt und der Worte spricht, die von weit her zu kommen scheinen oder durch ein dichtes, statisch aufgeladenes Medium, durch Wasser etwa oder durch eine Trennwand.
    » Nun«, sagte ich, hatte aber wirklich nicht vorgehabt, es zu sagen; ich wollte überhaupt nichts sagen, da der billige Trick mit dem Buch mich etwas verärgerte. Meine Antwort war nur ein Reflex, der vertuschen sollte, dass ich ihn nicht verstanden hatte. » Da geht es Ihnen nicht allein so. Jeder fühlt das hier hin und wieder. Ryvold sagt, dieses erste Sommerlicht fordere etwas von uns ein …«
    » Ryvold?« Wegen seiner Lektüre hatte er vermutlich geglaubt, ich zitiere einen berühmten norwegischen Schriftsteller und nicht unseren Ortsphilosophen.
    » Siegfried Ryvold«, sagte ich und lächelte höflich, um meinen Ärger zu überspielen. Warum hatte er getan, als läse er The Waste Lan d ? Was sollte das? Bloß ein weiteres Paniksymptom, ein blöder Versuch zu spielen und sich einzureden, es ginge ihm gut? » Einer unserer Nachbarn.«
    » Ach.« Er musterte mich einen Moment lang, wenn auch diesmal nicht so ausgiebig, dass es unhöflich gewirkt hätte. » Ein Nachbar«, wiederholte er, sobald der Moment vergangen war, und schaute über die Wiesen zu unserem Haus, dann übertrieben nach links und rechts, als suchte er nach weiteren Anzeichen für menschliche Besiedlung. Doch von der Hytte aus ist unser Haus das einzig sichtbare Gebäude. » Sind Sie denn auch eine Nachbarin?«
    » Wie bitte?«
    » Woher sind Sie gekommen?«, fragte er. » Sind Sie …?« Er suchte nach Worten, fand sie, schien aber nicht gänzlich davon überzeugt, als er sie aussprach. » Sind Sie – aus der Gegend?«
    Ich schüttelte den Kopf, was befremdlich war, denn wenn jemand aus dieser Gegend stammte, dann ich. Natürlich sah ich selbst mich aber nicht so. Das tut niemand. Es sind stets andere Leute, die » aus der Gegend« stammen. » Ich komme aus dem grauen Haus«, sagte ich. » Gleich da oben …« Fast hätte ich mich umgedreht und mit dem Finger darauf gezeigt, doch hielt ich mich zurück. Mir war wieder eingefallen, wie er an unserem Gartentor gestanden hatte, um zum Fenster am Treppenabsatz hinaufzustarren; und irgendwas an dieser Erinnerung ging mir gegen den Strich, so als wäre ich nun diejenige, die dumme Spielchen trieb.
    » Ach«, sagte er. » Natürlich.« Er lachte leise wie zu sich selbst, und ich fragte mich aufs Neue, ob er betrunken war oder Drogen genommen hatte. » Einen Moment lang dachte ich schon, Sie wären wie Botticellis Venus den Wellen entstiegen.«
    Ich lächelte, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, ob er nur Spaß gemacht hatte. Martin Crosbie überraschte mich; außerdem war ich etwas verlegen.

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