Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burnside
Vom Netzwerk:
Zoomobjektiv aus großer Entfernung aufgenommen worden war, doch überzeugte mich irgendwas an dem Bild, dass das Mädchen nicht gewusste hatte, was da vor sich ging. Die junge Frau wirkte zu natürlich, zu versunken in den Anblick eines Geschehens gleich rechts von ihr, außerhalb des Bildrahmens. Sie war hübsch, hatte dunkelbraunes, zu einem Bubikopf geschnittenes Haar, eine Frisur, die ihren schlanken, eleganten Hals betonte. Der Hintergrund ließ vermuten, dass sie sich in einem Park oder einem öffentlichen Garten befand, und ich war spontan davon überzeugt, dass sie nicht nur nicht wusste, dass sie fotografiert wurde, sondern auch, dass sie für Martin Crosbie eine Fremde war, jemand, den er gesehen und eher beiläufig fotografiert hatte. Also war er ein Spion, genau wie ich.
    Oder nicht? Ich schloss die Datei, öffnete die nächste, und da war sie wieder, an einem anderen Ort, in anderen Kleidern, auf dem nächsten Schnappschuss wieder ein wenig anders – und schlagartig wurde mir klar, dass Martin Crosbie ganz und gar nicht so war wie ich. Für ihn war diese junge Frau niemand, den er beobachtete, sondern jemand, den er begehrte. Ich öffnete eine Datei nach der anderen und fand sie an verschiedenen Orten, in verschiedenen Posen – und dann, nach etwa einem Dutzend Dateien, tauchte ein neues Mädchen auf, ein wenig jünger, mit hellem, fast blondem Haar und einem blassen, fast gehetzt wirkendem Gesicht. Ich betrachtete sie eine Weile, dann hielt ich inne – in dem Ordner waren über zweihundert Dateien, und ich war mir ziemlich sicher, dass sie alle Mädchen wie jene zeigten, die ich gerade gesehen hatte, Mädchen zwischen vierzehn und zwanzig, die ohne ihr Wissen von Martin Crosbies Kamera festgehalten worden waren, während sie im Park spazieren gingen oder von der Schule nach Hause heimkehrten, Mädchen in Sportsachen oder Schuluniform, Blondinen, Brünette, Rothaarige, Mädchen, die an jemand anderen, etwas anderes dachten, als Martin Crosbie einen Augenblick ihrer Existenz festhielt, um ihn seiner Bibliothek geheimer Bilder hinzuzufügen. Es waren keine unanständigen, keine verbotenen Bilder, trotzdem stellten sie eine Form von Diebstahl dar. Es war Diebstahl, keine Spionage; diese unschuldig wirkenden Fotos sollten den Mädchen etwas nehmen, und auch wenn ihnen das nicht gelang – für Martin Crosbie konnte ein Gelingen gar nicht infrage kommen, ein Gelingen hätte ja das Ende seiner Suche bedeutet –, war ihre Absicht eindeutig.
    Plötzlich ging mir auf, wie dumm ich gewesen war. Wie naiv. Denn obwohl ich Martin Crosbie nie mit einer Kamera gesehen hatte, fühlte ich mich manchmal beobachtet, und mir war längst aufgefallen, wie er mich ansah. Wie er mit mir scherzte, seinen Charme spielen ließ, Andeutungen machte. Dieser Computer enthielt aberhundert nur mit einer Abfolge von Zahlen und Buchstaben gekennzeichnete Bilder. Ich nahm an, dass ich die aktuellsten Fotos am Ende der Liste fand, also scrollte ich nach unten zum allerletzten Bild und öffnete es. Dann öffnete ich die vorletzte Datei, die davor und so weiter, bewegte mich rückwärts, bis ich endlich ein Gesicht sah, das nicht meins war. Es gab acht Bilder von mir, die meisten offenbar am selben, leicht verhangenen Tag fotografiert. Auf jedem trug ich meinen grauen Pullover und hatte das Haar zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Fotos waren zweifellos mit großer Sorgfalt und Vorsicht aufgenommen worden und auch – das war nicht zu übersehen – mit derselben Sehnsucht, demselben Verlangen, ein intimes Detail einzufangen, durch das ich ihm gehörte, so wie er diese anderen Mädchen zu seinen Mädchen gemacht hatte, zumindest für ein, zwei Sekunden, vielleicht auch für länger, wenn er sie dann wieder ansah, später, allein. Allein. Dieser Gedanke war unerträglich – und beinahe ehe ich wusste, was ich tat, löschte ich um meinetwillen, aber auch all den anderen Mädchen zuliebe erst eine Datei, dann die nächste, dann diejenige davor, bis der Ordner leer war. Ich löschte sie eine nach der anderen, langsam und ruhig, wie jemand, der eine Routinearbeit erledigt, gegen die er nichts hat, die er aber auch nicht besonders gern macht, dann leerte ich den elektronischen Papierkorb, damit Martin Crosbie sie nicht einfach zurückholen konnte. Zumindest nicht so ohne Weiteres. Selbst damals wusste ich, dass nichts endgültig von einer Festplatte gelöscht werden kann, und ich musste davon ausgehen, dass er Sicherungskopien besaß,

Weitere Kostenlose Bücher