In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
Ich scherte mich nicht im Mindesten darum, und ich wollte, dass sie das wusste. Sie sollte wissen, dass ich niemand anderen in meinem Leben brauchte, dass ich glücklich mit uns war, auf meine Weise glücklich, und das Letzte, was ich wollte, war ein neu gefundener Vater, erst recht keinen bettlägerigen in einem fernen Krankenhaus. Sie gestattete sich ein leises Lächeln – kein versonnenes, aber auch kein nur verständnisvolles Lächeln. » Ich bin mir ziemlich sicher«, fuhr sie fort, » dass er damals versucht hat, Schlimmeres zu verhüten.«
» Ach ja? Und was soll das sein?«
Sie blieb nur noch lang genug, um zu sagen, was sie zu sagen hatte. » Sich nicht zu rühren«, sagte sie, zögerte kurz, ihr Gesicht ernst, damit ich merkte, dass dies nicht bloß Spaß war, dann wandte sie sich ab, und ich hörte, wie sich ihre Schritte über den Treppenabsatz in Richtung Atelier entfernten.
***
Früher haben die Menschen geglaubt, jemand – oder etwas – behielte sie im Auge. Manche haben gedacht, es seien Götter oder Engel, andere stellten sich ihre toten Vorfahren vor, die sie von jenseits des Grabes beobachteten; jedenfalls fühlte man sich sicher in dem Wissen, dass man gesehen wurde. Möglicherweise wurde über sie geurteilt, aber ihnen wurde auch vergeben. Es war ein kindlicher Glaube, und manchmal war ihnen das bewusst, aber sie hingen ihm trotzdem an, weil sie wollten, dass stimmte, was sie sich erhofften. Sie wollten sich als jemand verstehen, der von einem unbekannten Aussichtspunkt aus im Auge behalten wurde, so fühlten sie sich realer. Der göttliche Blick sollte jene Blicke aufwiegen, denen sie Tag für Tag ausgesetzt waren, Blicke, durch die sie sich weniger real fühlten. Sie wussten, sie wurden gedemütigt von der Art und Weise, wie andere Menschen sie sahen, nur machte ihnen das nichts aus, da sie jeden Tag, Minute um Minute, durch den Himmel aufgewertet wurden. Natürlich irrten sie sich. Niemand beobachtet uns. Niemand behält uns im Auge – zumindest niemand, der geneigt wäre, uns zu vergeben.
Ich denke nicht, dass Martin Crosbie annahm, beobachtet zu werden – nun, vielleicht war genau das sein Problem. In einem Wetter, einem Licht, das ihn sich selbst fremd werden ließ, war er seinen Gewissheiten zu fern; und ich glaube, er begann, sich unwirklich zu fühlen. Manchmal kann das ein Segen sein, war es für ihn aber nicht – und ich fürchte, so weit fort von daheim begann er, sorglos mit seinen Geheimnissen umzugehen. Als ich zum ersten Mal vermutete, dass er ein Geheimnis hatte, rechnete ich jedoch mit etwas, das es mir erlauben würde, ihn zu verstehen – und nach unserer seltsamen Begegnung spürte ich, dass ich ihn verstehen wollte. Vielleicht habe ich ihm überhaupt nur deshalb nachspioniert. Von Anfang an hatte ich ihn verstehen wollen, zumindest wollte ich das Geheimnis kennenlernen, das er verbarg, wenn auch aus Gründen, die mir selbst nicht ganz verständlich waren, die aber irgendwas mit der Tatsache zu tun hatten, dass er so verloren wirkte.
Es könnte jedoch auch sein, dass ich nur nach einer Ablenkung suchte. Ich wollte nicht an die Briefe denken und vermied es weiterhin, mich zu fragen, was ich künftig mit meinem Leben anfangen wollte. Ich brauchte etwas, was mich beschäftigte – und mit dem Spionieren kannte ich mich aus. Allerdings glaube ich nicht, dass es nur das war. Rückblickend verstehe ich, dass bei unserer Party mit Tee und Solo irgendwas passiert sein musste. Irgendwas ließ Martin Crosbie bei dieser Begegnung auf eine Weise interessant werden, die ich mir zuvor nicht vorstellen konnte. Anfangs hatte ich ihn gemieden, weil er so verloren wirkte und so offen; jetzt faszinierte er mich, weil ich glaubte, er habe ein Geheimnis, nur lag es daran nicht, wie sich später herausstellte, was ich aber noch nicht wissen konnte. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich es heute wirklich weiß. Schließlich hätte er alles sein können. Ein trauriger Fall, ein Perverser, ein hoffnungsloser Romantiker, auch jede beliebige Kombination daraus hätte erklärt, was ich zwei Tage später in der Hytte fand.
Ich lief über unseren Pfad hinab zu den unteren Wiesen, als ich ihn ins Auto steigen, oben am Wegende wenden und in Richtung Straumsbukta davonfahren sah. Er hatte mich nicht entdeckt, da war ich mir sicher. Sonst hätte er gelächelt oder gewunken, vielleicht sogar angehalten und gefragt, ob ich mitkommen wolle, da er uns zweifellos für Freunde hielt. Das waren wir
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