Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten

Titel: In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burnside
Vom Netzwerk:
aber nicht. An jenem Tag war ich nicht aus dem Haus gegangen, um ihn zu besuchen, ich hatte nicht einmal vorgehabt, zur Hytte zu gehen. Ich ging bloß spazieren, vertrieb mir die Zeit. Erst als ich ihn fortfahren sah, kam mir etwas in den Sinn, woran ich zuvor gar nicht gedacht hatte, und wenige Minuten später stand ich mit leicht schlechtem Gewissen vor der Tür zum kleinen Sommerhaus. Ich sage, mit leicht schlechtem Gewissen, weil ich angenommen hatte, dass die Tür verschlossen sein würde, und das wäre es dann gewesen. Nur war die Tür nicht verschlossen – und das war ungewöhnlich. Die meisten Sommergäste behielten die gleichen Sicherheitsmaßnahmen wie draußen in der weiten Welt bei, aus Gewohnheit, schätze ich, oder weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass es einen Ort gab, der keine Sicherheitsmaßnahmen verlangte, weshalb ich nicht damit gerechnet hatte, die Hytte betreten zu können. Aber kaum bot sich die Chance, öffnete ich die Tür in der Annahme, dass Martin Crosbie noch eine Weile unterwegs sein würde, und schlüpfte hinein. Als ich den Türknauf probierte, hatte ich noch ein leicht schlechtes Gewissen gehabt, jetzt aber kannte ich überhaupt keine Gewissensbisse mehr und war nur noch neugierig auf das, was ich finden würde. Was, wie mir inzwischen natürlich klar ist, bedeutete, dass ich damit rechnete, etwas Interessantes zu finden. Eine Andeutung, eine Spur, vielleicht nicht die ganze Geschichte, doch einen Hinweis darauf, was eigentlich Martin Crosbies Geheimnis war.
    Drinnen war die Hütte sauber und aufgeräumt, gerade so, wie schon zwei Tage zuvor. Das hatte mich vorgestern überrascht, und es überraschte mich heute wieder, da ich erwartet hatte, dass Martin Crosbie in seinem häuslichen Leben unordentlich, gar chaotisch war. Ich hätte nicht sagen können, warum ich das annahm, nur dass er mir auf unbestimmte Weise irgendwie schludrig vorkam, wie ein Mann, der nicht recht wusste, was er tat oder dachte – und das war seltsam, da sämtliche Hinweise in eine andere Richtung deuteten. Er war am ersten Tag gut vorbereitet hergekommen, das Auto mit allem beladen, was man für einen längeren Aufenthalt an einem Ort wie diesem brauchte; und wenn ich mich jetzt umsah, verblüffte mich, dass hier offensichtlich jemand mit einer peniblen, schlichten, fast mönchischen Einstellung zum Leben wohnte. Kein schmutziges Geschirr im Becken, kein Fettspritzer um den Herd, keine leeren Flaschen oder Gläser mit Schaumrändern auf dem Tisch, keine Papierstapel oder ungelesenen Zeitungen auf dem Boden. Eigentlich war die Topfpflanze auf dem Tisch der einzige Hinweis darauf, dass die Hytte bewohnt wurde, aber auch etwas, was mir bei meinem letzten Besuch nicht aufgefallen war – ein Computer.
    Ein Computer. Das überraschte mich, und mir wurde klar, dass ich so gut wie nichts über diesen Mann wusste. Was er tat, woher er kam, ob er verheiratet war oder sonst wie in einer festen Beziehung steckte – ich wusste keines der grundlegenden Dinge, die man auf einer Party schon in den ersten fünf Minuten durch die beiläufigste Unterhaltung erfahren hätte. Da war ich, eine Spionin in Martin Crosbies zweitem Zuhause, und ich wusste so gut wie nichts über ihn, kannte nur seine Vorliebe für Bücher und seine bizarre Weise, eine fremde Sprache zu lernen. Ich ging zum Laptop und schaltete ihn ein. Ich rechnete damit, dass der Zugang geschützt sein würde, dass ich ohne ein Passwort nichts zu sehen bekam, doch lohnte sich der Versuch – eine Passwortanfrage erschien, ich brauchte aber nur die Eingabetaste zu drücken. Der Hintergrund zeigte das beruhigende Bild einer herbstlichen Waldlandschaft mit rotgoldenen Blättern. Die üblichen Icons tauchten auf, dazu ein paar mit » Temp« und » Pics«‹ bezeichnete Ordner. Ich setzte mich und klickte den Temp-Ordner an, aber der war leer; dann klickte ich auf Pics, und eine lange Reihe mit Dateinamen erschien. Als ich die erste Datei mit einem Doppelklick öffnete, wurde ein Bild sichtbar, das den ganzen Bildschirm füllte.
    Es war das Foto eines Mädchens mit weißem Hemd oder weißer Bluse und einem Faltenrock, etwa mein Alter, vielleicht ein bisschen jünger. Sie posierte nicht für die Kamera. Die Aufnahme war kein Familienschnappschuss, nichts dergleichen, und mir wurde sofort klar, dass Martin Crosbie die Aufnahme ohne Wissen des Mädchens gemacht hatte. Das Bild war von guter Qualität – gestochen scharf; nichts verriet, dass es mit einem

Weitere Kostenlose Bücher