In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
hätte er ewig leben können. Das hatten ihm die Götter bei der Geburt ja auch versprochen. Doch nun, da er sich selbst sieht und weiß, dass er Teil der Welt ist, muss er sterben …«
Plötzlich dachte ich an Mats und Harald. » Und er fällt ins Wasser«, sagte ich und blickte Ryvold an. Dachte er auch an die Jungen?
Er hörte die Frage in meiner Stimme, ließ den Kiesel aus der Hand fallen und betrachtete mich – doch merkte ich ihm an, dass er nicht wusste, worin eigentlich die Frage bestand. Er hatte nur den anderen Ton in meiner Stimme gehört, die Jungen aber völlig vergessen – sie vielmehr hinter sich gelassen und der faktischen Welt überantwortet. Hier war alles reine Theorie, und ihn überraschte der Blick in meinem Gesicht. Dann aber meinte er mich zu verstehen und begann zu erklären. » Er fällt nicht ins Wasser. Er fällt ins eigene Spiegelbild. Denn er beugt sich vor, um sich genau zu sehen, und sich beugen heißt fallen. Er hätte sich zurücklehnen, Abstand nehmen können, um die größeren Zusammenhänge zu sehen – und das machen Maler ja auch, zumindest wenn es gute Maler sind. Meinst du nicht?«
Ich nickte, wollte aber nicht, dass er meiner Miene den Gedanken an die toten Jungen ablas. Ich wollte, dass er blieb, wo er war, in seiner theoretischen Welt, dort, wo er zu viel dachte. » Und so«, sagte ich, » wurde er zur Blume, zur Narzisse.«
Wieder lachte Ryvold. Es war ein gutes Lachen, und mir fiel auf, dass ich es in unserem Haus viel zu selten gehört hatte. » Zu einer Blume, ja. Er wurde in eine Blume verwandelt, und das ist eine Form der Unsterblichkeit. Es hätte aber auch irgendwas anderes sein können – eine Blume, ein Schwan, ein Reh –, darauf kommt es nicht an. Wichtig ist allein die Verwandlung. Niemand kann ewig leben. Selbst die Götter sterben. Aber man kann sich verwandeln, und nur das treibt die Welt voran.«
» Und was hat das nun mit Malerei zu tun?«, fragte ich , und diesmal war es eine ernst gemeinte Frage. Plötzlich wollte ich wirklich verstehen, was in seinem Kopf vorging, wusste ich doch, dass es auf eine seltsame, berührende Weise mit Mutter zu tun hatte.
Ryvold schaute mich an, dann wandte er sich ab und blickte über das Wasser. Bei jedem anderen hätte es romantisch gewirkt, wie ein theatralischer Akt, aber bei ihm war es nur – er selbst. Er schien überhaupt kein Gespür für sich zu haben. Es war, als existierte er nicht, zumindest nicht als Mann, als wäre er rein theoretisch, bloß eine Reihe von Fragen und Behauptungen wie ein Buch über Farben oder Perspektive. » Ich weiß nicht«, sagte er schließlich. » Ich weiß nur, dass Narziss einen Moment lang sieht, was er liebt.« Er wandte sich wieder zu mir um und verzog das Gesicht zu einem schüchternen, leicht verlegenen Lächeln. » Tut mir leid. Manchmal falle ich in meine Professorenrolle. Offenbar kann ich nicht dagegen an.«
Ich schüttelte den Kopf. » Macht nichts. Ich find’s interessant.«
Er lächelte. Unser Gespräch hatte mit Mutter zu tun, das konnten wir beide jetzt sehen, und wir wussten auch, dass wir beide es wussten. Von Anfang an hatten wir über sie geredet. Ryvold behielt sein Lächeln bei, doch wurde es sanfter, und von einem Moment auf den anderen lag darin etwas Trauriges. » Es dauert nicht lang«, sagte er. » Narziss fällt in sein Spiegelbild und wird zur Blume, nur haben wir damit überhaupt nicht gerechnet.« Er dachte kurz nach. » So ist das mit Geschichten. Sie erinnern uns daran, dass alles möglich ist. Alles ändert sich, alles kann zu allem anderen werden – und daran ist nichts Übernatürliches.«
Da fiel mir Kyrre Opdahl ein. Dieses viele Nachdenken wäre nichts für ihn gewesen, aber der letzten Bemerkung hätte er auf seine Weise zugestimmt. Das heißt, er hätte ihr zugestimmt und gleichzeitig Bedenken angemeldet. Er würde einen Hinweis, eine Bestätigung dafür brauchen, dass die Welt, wie immer sie auch sonst sein mochte, eigenartiger war, als wir ihr zubilligten. Eigenartiger – und gefährlicher. Ich las einen letzten Kiesel auf und ließ ihn übers Wasser hüpfen. » Hängt davon ab, was Sie unter übernatürlich verstehen«, sagte ich.
Einige Zeit verging. Ich erinnere mich nicht, wie lang jene Phase anhielt, denn im Nachhinein kann man sich ja nie daran erinnern, wie lange ein Zeitraum dauerte, in dem nicht viel geschah. Natürlich passierte etwas, wenn auch nichts Nennenswertes, und kein Vorfall reichte aus, mir das Gefühl zu
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