In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
nehmen, dass ich auf etwas wartete. Nur wusste ich nicht auf was. Es hätte etwas rein Persönliches sein können – weitere Neuigkeiten von Kate Thompson, noch ein Gespräch mit Mutter über die Frage, ob ich nach England fahren sollte –, doch glaube ich nicht, dass es darum ging. Damals nicht. Vielleicht wartete ich darauf, dass noch ein Junge ertrank. Vielleicht hatte es etwas mit Martin Crosbie zu tun, ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass die Geschichte, die mit Mats’ Ertrinken begonnen hatte, noch nicht zu Ende war , dass da noch mehr kommen würde. Dabei dachte ich eigentlich nicht an Maia, obwohl ich sie unten am Strand einmal kurz gesehen und mich gefragt hatte, wie sie wohl zurechtkam. Ich glaube, damals tat sie mir noch leid – manchmal wenigstens. Allerdings habe ich den Eindruck, dass mir in jenem seltsamen Sommer alle irgendwie leidtaten: die Jungen, Mrs. Sigfridsson, Kyrre Opdahl, Ryvold. Sie taten mir leid , und ständig wartete ich darauf, dass etwas geschah. Etwas, das die Geschichte zu Ende brachte, das eine Erklärung für das Rätsel bot – auch wenn ich gar nicht hätte sagen können, was eigentlich so rätselhaft war.
Irgendwann in dieser trägen, grauen Zeit traf Frank Vernes Artikel ein. Wenn ich mich recht erinnere, war Mutter überrascht, den Beitrag so bald zu sehen, und irgendwas muss sie beunruhigt haben. Ich war dabei, als die Post kam, und ich sah zu, wie sie das Päckchen öffnete, ein Hochglanzmagazin herausnahm und sich zum Lesen an den Küchentisch setzte. Was sie erwartet hatte, wusste ich nicht, doch wurde bald offensichtlich, dass irgendwas nicht stimmte. Natürlich ist Mutter stets in der Lage gewesen, ihre wahren Gefühle zu verbergen – so sehr sogar, dass ich jahrelang vermutet hatte, sie habe überhaupt keine Gefühle außer der Leidenschaft für ihr Werk und eine unbestimmte Zuneigung für ihr einziges Kind –, doch war da ein Moment, ein winziges Aufleuchten von irgendwas in ihrem Gesicht, als sie das dicke, schön gestaltete Kunstjournal schloss und mit einem Lächeln zu mir aufblickte.
» Meine Güte, was mache ich hier bloß«, sagte sie. » Dafür habe ich nun wirklich keine Zeit.«
Ich sah sie an. » Was ist?«, fragte ich. » Was steht drin?«
Sie erhob sich – und mir fiel auf, dass sie die Zeitschrift in der Hand behielt, statt sie wie üblich auf dem Küchentisch liegen zu lassen. » Ach, nichts Besonderes.« Mutter war wirklich gut, fast überzeugend, trotzdem merkte ich, da war etwas, irgendwo hinter der Fassade. Natürlich irrte ich mich in meiner Vermutung: Damals dachte ich, dass sie ihn vermisste, dass seine Worte sie aufgewühlt hatten, schließlich war sie in diesen Mann halb verliebt gewesen. Sie hatte es so gut geschafft, diesen Frank zu vergessen, hatte in den Tagen seit seiner Abreise nicht ein einziges Mal seinen Namen erwähnt, und soweit ich wusste, gab es zwischen den beiden auch keinen Kontakt. Daher nahm ich an, dass dieser Artikel – den er ihr offenbar persönlich per Eilpost geschickt hatte – die erste Erinnerung an seinen Besuch war. Nun erlitt sie vorübergehend einen Rückschlag. Sie hatte den Mann fast vergessen und ärgerte sich über sich selbst, weil sie erneut fühlte, was sie gefühlt hatte, als er bei ihr gewesen war; vielleicht ärgerte sie sich auch über ihn, weil er ihr diese Erinnerung zukommen ließ. Dachte ich allerdings länger darüber nach, klang das gar nicht nach Mutter, eher nach der romantischen Heldin eines Romans.
Wie sich zeigte, sollte ich mich irren, allerdings fand ich das erst viel später heraus. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand verließ sie an jenem Morgen die Küche und ging, die Zeitschrift unter dem Arm, nach oben, um den Artikel später zu lesen. Keine Sekunde kaufte ich ihr diesen Auftritt ab, doch war meine Neugier nicht groß genug, um die Angelegenheit weiterzuverfolgen. Meine Vermutung arbeitete für mich, und ich sagte mir, wenn ich das Thema auf sich beruhen ließe, würde Frank Verne bald wieder in irgendeinem dämmrigen Winkel ihrer Erinnerung verschwinden, zusammen mit all den anderen Dingen, an die sie es vorzog, sich nicht zu erinnern. Mir kam nicht einmal der Gedanke, herausfinden zu wollen, was in dem Artikel stand, da ich annahm, es handelte sich bloß um einen weiteren Beitrag über die schöne, zurückgezogen im hohen Norden lebende Malerin. Dass Mutter irgendwem irgendwas über sich anvertraute, konnte ich mir einfach nicht vorstellen, doch sollte ich mich auch
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