In hellen Sommernächten - Burnside, J: In hellen Sommernächten
war, zum anderen aber, da kaum Gefahr bestand, Mutter zu wecken. Ihr Zimmer liegt am anderen Ende des Hauses, noch hinter dem Atelier; außerdem schläft sie nach einer langen Arbeitsnacht so tief und fest, dass mir nie auch nur der Gedanke gekommen ist, ich könnte sie stören. Und mir missfällt der Gedanke; er missfällt mir nicht nur, ich finde die Vorstellung geradezu abstoßend, durch die Gegend zu schleichen. Es hat so etwas Theatralisches, wenn jemand auf Zehenspitzen die Treppe hinab und aus dem Haus huscht, die Schuhe in der Hand – pure Schauspielerei, ein Vorwand, um sich selbst als das Mädchen mit einem Geheimnis aus irgendeinem Film, einem Roman zu sehen, als die Hauptperson, die Heldin. Jedenfalls habe ich das damals gedacht. Mir ist es viel lieber, auf ganz normale Weise meinen Tätigkeiten nachzugehen, so wie man es tut, wenn man sich nicht selbst beobachtet und nicht zu befangen ist.
An diesem Morgen hatte ich also getan, was ich an jedem Sommermorgen tat: Ich wachte auf, zog mich an, streifte mir die Schuhe über, ging auf den Treppenabsatz und sah durch die halb geöffnete Tür zu Mutter hinein, die tief schlummernd in ihrem Bett lag, den Kopf ins Kissen gepresst, den linken Arm auf ihre typische, ein wenig seltsame Weise ausgestreckt, als langte sie nach etwas, das zweifellos existierte – wenigstens im Traum –, aber knapp außerhalb ihrer Reichweite lag. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich auch an jenem Morgen, wie schon so manches Mal, kurz an ihrer Tür verharrte, überkommen von einer plötzlichen, fast geschwisterlichen Zuneigung für diese Frau, die sich ebenjetzt in einer anderen Welt befand, in der sie jemand anderes war, jemand, den ich nie sehen oder berühren würde, den ich mir nicht einmal vorzustellen vermochte. Rückblickend verstehe ich, dass ich diesen Gedanken tröstlich fand, zweifellos, weil das traumferne Ich ihr waches Ich weniger fern und somit fassbarer erscheinen ließ. Und doch hatte ich auch leichte Gewissensbisse, als ich sie schlafen sah, denn ich muss gestehen, dass mir meine schlafende Mutter besser gefiel als die wache. Wach schien sie – was? Ich bin mir nicht sicher, ob dies das richtige Wort ist, aber sie kam mir – allzu perfekt vor, zu in sich gekehrt, zu still. Natürlich war sie eine Mutter, stets praktisch gesinnt, Unterstützung gewährend und um mein Wohlergehen besorgt, doch war sie in allererster Linie Künstlerin, und ihre Mütterlichkeit hatte etwas zu Umsichtiges, fast Lehrbuchhaftes an sich. Es stimmte nun mal, dass sie – selbst wenn sie sich noch so große Mühe gab, mir eine gute Mutter zu sein – von Natur aus eine Einzelgängerin war, die ihre eigene Welt einige Grad abseits von jener bewohnte, in der wir übrigen Menschen lebten. Gewiss, ich liebte sie genau so, wie sie war; ich hätte sie nicht anders haben wollen. Und ich war auf meine Weise selbst auch Einzelgängerin. Trotzdem war es manchmal schwierig, fast, als wäre man noch ein Kind und nähme ein mechanisches Spielzeug auseinander, ein Auto etwa, einen Zug oder einen Aufziehvogel, ein Spielzeug, das, so ist nun einmal der Lauf der Welt, irgendwann zerbricht oder Eigenheiten entwickelt, merkwürdige Besonderheiten, die man, kluges Kindchen, das man ist, sicher mit ein wenig Logik und Mühe beheben kann. Also nimmt man das Ding in der Annahme auseinander, dass das innere Laufwerk kompliziert und komplex sein wird, ein winziges Stück präziser Ingenieurskunst, dessen Funktionsweise klar und deutlich sein dürfte, doch man entdeckt einen groben, leicht zerbrechlichen Mechanismus, ganz offenkundig ungeeignet für die Bewegungsabläufe, für die er entworfen wurde, und zudem hoffnungslos irreparabel. Was man also in Wahrheit vorfindet, ist so gut wie nichts. Dieses Ding, dieses Spielzeug, diese Maschine funktioniert bloß dank einer Art Wunder und hat rein gar nichts mit Zahnrädern, Gelenken und Spannfedern zu tun, ist nur irgendeine mysteriöse, nebulöse, in eine winzige Schale gesperrte Spannung, die man, ist sie erst einmal entwichen, nie zurückgewinnen kann. Ebenso war es mit Mutter, nur dass sich das offensichtlich Einfache, der unübersehbare Mangel an Mechanik auf der Außenseite befand, und das Wunder – die Bewegung, die Musik, die Tanzfiguren – waren innen verborgen. Von außen sah man davon nichts, nur die perfekte, endgültige Version jenes Menschen, der zu werden sie vor langer Zeit beschlossen hatte. Innen aber geschah etwas, winzige Zahnräder und Gelenke
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