In kalter Absicht
anders. Im Bus nach Oslo hatten vor ihm ein paar Jugendliche gesessen, von deren Sprache er kaum ein Wort verstanden hatte. Es wurde besser, als er im Hotel Continental eintraf. Aksel Seier konnte sich nur an die Namen von zwei der vornehmen Osloer Hotels erinnern, Grand und Continental. Continental hörte sich eleganter an. Es kostete sicher ein Vermögen, aber er hatte Geld und eine Platinkarte. Als er seinen US -Paßvorlegte, hatte die Dame an der Rezeption Englisch mit ihm gesprochen. Als er auf norwegisch antwortete, hatte sie gelächelt. Sie war freundlich. Alle waren freundlich, und hier im Theatercafé sprach der Kellner das Norwegisch, das Aksel Seier kannte und verstand.
»Sind Sie auf der Durchreise?« fragte der magere Mann und legte die Rechnung auf den Tisch.
»Ja. Nein. Durchreise.«
»Sie wohnen vielleicht hier im Hotel«, sagte der Kellner und griff nach der Karte. »Dann darf ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt wünschen. Jetzt geht es wirklich dem Sommer entgegen. Schön, nicht?«
Aksel Seier wollte auf sein Zimmer gehen und ein paar Stunden schlafen. Er mußte sich daran gewöhnen, daß er jetzt hier war. Danach wollte er einen Spaziergang durch die Stadt machen. Gegen Abend. Er wollte sehen, woran er sich noch erinnern konnte. Er wollte Norwegen beschnuppern. Feststellen, ob Norwegen ihn noch erkannte. Aksel glaubte das nicht. Es war alles so lang her. So ungeheuer lange. Morgen wollte er Eva besuchen. Aber erst morgen. Er wollte bei diesem Wiedersehen ausgeruht sein. Er wußte, daß sie krank war, und er rechnete mit allem.
Vor dem Einschlafen wollte er Inger Johanne Vik anrufen. Es war schließlich erst drei Uhr nachmittags. Sie war sicher noch bei der Arbeit. Vielleicht war sie noch böse über sein Verschwinden. Aber immerhin hatte sie die weite Reise in die USA unternommen, um ihn zu treffen. Sie hatte ihre Visitenkarte in seinen Briefkasten geworfen und an seiner Haustür befestigt.
Sie hatte sicher noch immer Interesse an einem Gespräch mit ihm, das doch zumindest.
61
Inger Johanne hatte das seltsame Gefühl, es sei bereits Freitag. Als sie um zwei Uhr, unter dem halbwegs zutreffenden Vorwand, in den Buchladen gehen zu müssen, das Büro verlassen hatte, mußte sie sich mehrmals daran erinnern, daß die Woche noch immer nicht weiter als bis zum Mittwoch, dem 7. Juni, vorgerückt war. Im Buchladen Norli hatte sie eine Taschenbuchausgabe von Sündenfall, 14 . November gefunden, dem letzten von Asbjørn Revheims sechs Romanen. Inger Johanne meinte, ihn früher bereits gelesen zu haben. Nach dreißig Seiten kam sie zu dem Schluß, daß ihre Erinnerung sie getäuscht hatte. Es war eine Art Zukunftsroman, und sie wußte nicht so recht, ob er ihr überhaupt gefiel.
Inzwischen war es Zeit für die Fernsehnachrichten. Sie schaltete den Apparat ein.
Laffen Sørnes war auf einer Hauptstraße im Nordwesten von Oslo gesehen worden. Er war zu Fuß unterwegs. Drei unabhängige Zeugenaussagen stimmten bis ins Detail überein, von der Tarnkleidung bis zu dem eingegipsten Arm. Noch ehe jemand den Flüchtling hatte anhalten können, war er wieder im Wald verschwunden. Die Polizei hatte zwei finnische Bärenjäger zur Verstärkung hinzugezogen. TV 2 hatte in der Umgebung einen Hubschrauber im Einsatz, während NRK sich bisher an die inständige Bitte der Polizei hielt, auf dem Erdboden zu bleiben. Dort warteten dafür gleich fünf Reporterteams, die im Grunde alle nicht viel zu berichten hatten.
Inger Johanne schauderte es, während sie zwischen den beiden Sendern hin- und herschaltete.
Das Telefon klingelte. Sie konnte den Fernseher noch schnell leiser stellen, ehe sie abnahm. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war ihr unbekannt.
»Spreche ich mit Inger Johanne Vik?«
»Ja …«
»Es tut mir leid, daß ich Sie am Abend störe. Ich bin Unni Kongsbakken.«
»Ach.«
Inger Johanne schluckte und nahm den Hörer in die linke Hand.
»Sie haben doch am Montag mit meinem Mann gesprochen, nicht wahr?«
»Ja, ich …«
»Astor ist heute morgen gestorben«, sagte die Stimme.
Inger Johanne versuchte, den Fernseher auszuschalten, aber aus Versehen drückte sie auf den Lautstärkeregler. Ein Moderator brüllte, daß die gesamte Sendezeit von Redaktion 21der großen Menschenjagd gewidmet sein würde. Inger Johanne fand endlich die richtige Taste, und alles war still.
»Verzeihung«, stammelte sie. »Mein … mein Beileid.«
»Danke«, sagte die Stimme. »Ich rufe an, weil ich Sie sehr gern
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