In kalter Absicht
treffen würde.«
Unni Kongsbakkens Stimme klang erstaunlich ruhig, in Anbetracht der Tatsache, daß sie erst vor wenigen Stunden Witwe geworden war.
»Mich treffen … ja. Wieso … natürlich.«
»Mein Mann war nach Ihrem Anruf ungeheuer verstört. Gestern rief dann mein Sohn an und erzählte von Ihrem Besuch in seiner Kanzlei. Astor … Nun ja. Er ist heute am frühen Morgen gestorben.«
»Es tut mir wirklich leid, falls … Ich meine, ich wollte wirklich nicht …«
»Es war ein undramatischer Tod, Frau Vik. Sie können ganz unbesorgt sein. Astor war zweiundneunzig, und seine Gesundheit war schon arg angegriffen.«
»Nun gut. Aber ich …«
Inger Johanne wußte wirklich nicht, was sie sagen sollte.
»Ich selbst bin ja auch nicht mehr die Jüngste«, sagte Unni Kongsbakken. »Und morgen bringe ich meinen Mann nach Hause. Er wollte in Norwegen beigesetzt werden. Es wäre nett, wenn Sie sich schon morgen vormittag die Zeit für ein Gespräch nehmen könnten. Die Maschine landet gegen zwölf. Paßt es Ihnen um drei Uhr?«
»Aber … das hat doch Zeit! Bis nach der Beisetzung, meine ich.«
»Nein. Es ist schon lange genug aufgeschoben worden. Bitte, Frau Vik.«
»In Ordnung«, murmelte Inger Johanne.
»Um drei Uhr also. Im Grand, ist Ihnen das recht? Da ist es normalerweise ruhig.«
»Gut. Um drei. Grand Café.«
»Bis dann. Adieu.«
Die alte Dame hatte aufgelegt, ehe Inger Johanne noch etwas sagen konnte. Sie hielt noch lange den Hörer in der Hand. Sie wußte nicht so recht, was sie so schnell und flach atmen ließ, Schuldbewußtsein oder Neugier.
Was in aller Welt willst du von mir, dachte sie und legte endlich den Hörer auf die Gabel. Was ist schon lange genug aufgeschoben worden?
Dann spürte sie, wie ihr die Röte in die Wangen stieg.
Ich habe Astor Kongsbakken umgebracht!
Yngvar Stubø saß allein in seinem Büro und las zum zweiten Mal eine Mail. Die Polizei in Tromsø hatte von May Berit Benonisen nur erfahren, daß sie Karsten Åsli früher einmal gekannt hatte, ziemlich oberflächlich, wie sie schon ausgesagt hatte. Die Mail war kurz und nüchtern. Der Kollege hatte offenbar die Wichtigkeit von Yngvars Frage nicht begriffen. Er hatte Frau Benonisen telefonisch vernommen.
Tønnes Selbu hatte nie von einem Karsten Åsli gehört.
Grete Harborg war tot.
Turid Sande Oksøy war nicht zu erreichen. Als Yngvar später am Nachmittag endlich ihren Mann an der Strippe hatte, war Turid ins Ferienhaus gefahren. Ohne Telefon. Nach Telemark, sagte Lasse schroff und vage, und dann verlangte er, in Ruhe gelassen zu werden, bis die Polizei konkrete Ergebnisse vorlegen könnte.
Sigmund Berli hatte noch nicht mehr über Karsten Åslis Sohn in Erfahrung bringen können. Yngvar hatte den Verdacht, daß er diesen Auftrag auch nicht mit sonderlichem Eifer verfolgte. Obwohl Sigmund bei der Arbeit sein engster Vertrauter war, schien auch er ihm jetzt zu entgleiten.
Nach dem Unglück war alles anders geworden. Elisabeth und Trine zu verlieren war wie gebrandmarkt zu werden, mit einem Stigma, das andere Menschen in Verlegenheit stürzte. In der Kantine verstummten alle, wenn er sich zu ihnen setzte. Erst nach vielen Monaten gestattete es sich jemand, in seiner Anwesenheit zu lachen. In gewisser Hinsicht wurde ihm noch immer Respekt entgegengebracht, aber seine Intuition, die früher bewundert und sagenumwoben gewesen war, galt jetzt als seltsame Grille eines hart geprüften und unglücklichen Mannes.
Yngvar war nicht unglücklich.
Er steckte sich eine Zigarre an und horchte in sich hinein.
»Ich bin nicht unglücklich«, sagte er halblaut und ließ eine Rauchwolke hochsteigen.
Die Zigarre war zu trocken, und er machte sie ärgerlich aus.
Wenn er bis zum Feierabend des nächsten Tages nicht genug gegen Karsten Åsli vorliegen hatte, um einen Durchsuchungsbefehl zu erwirken, würde er möglicherweise auf eigene Faust hinfahren. Emilie war dort. Da war er ganz sicher. Vielleicht würde er danach gefeuert werden. Aber vielleicht konnte er die Kleine retten.
Noch knapp vierundzwanzig Stunden, dachte er und verließ sein Büro. Mehr Zeit wage ich der Sache nicht zu geben.
62
Sie erkannten sich sofort.
Vor über einem Menschenalter hatte sie im Hafen gestanden und ihm zum Abschied zugewinkt. Er hatte versucht, sie im Auge zu behalten, als sie sich fester in ihren Schal gehüllt und das Fahrrad an dem Kai entlanggeschoben hatte, während die MS Sandefjord ablegte. Der Wind ließ ihren Rocksaum flattern. Das
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