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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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schlitterte der Mazda in eine Kurve. Der Straßenrand war nicht befestigt, Steine und Kies spritzten gegen die linke Wagenseite. Für einen Moment drohte das Auto von der Straße abzukommen. Erst nach ein oder zwei Sekunden bekam der Fahrer es wieder unter Kontrolle und steigerte sein Tempo noch weiter.
    »Autofahren kann er immerhin«, sagte Yngvar trocken. »Weißt du inzwischen mehr über Karsten Åslis kleinen Sohn?«
    Sigmund Berli gab keine Antwort. Er starrte weiterhin den Bildschirm an. Sein Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Er schien eine Warnung hervorpressen zu wollen und gleichzeitig zu wissen, daß es zwecklos war, überhaupt irgend etwas zu sagen.
    »Allmächtiger«, sagte die Sekretärin. »Was …«Später sollte sich herausstellen, daß TV 2 bei dieser direktübertragenen Verfolgungsjagd über siebenhunderttausend Zuschauer hatte. Über siebenhunderttausend, die meisten davon bei der Arbeit, da es erst zehn nach drei am Nachmittag war, sahen zu, wie ein dunkelblauer Mazda 323, Baujahr 1987, in einer Kurve ins Schlingern geriet und gegen den entgegenkommenden, ebenfalls blauen Opel Vectra knallte.
    Der Mazda wurde fast in zwei Hälften gespalten, ehe er sich überschlug. Er prallte auf das Dach des Opels, der weiterhin vorwärts raste. Der Mazda verkeilte sich mit dem Opel in einer absurden metallischen Umarmung. Die Leitplanken schlugen Funken aus den Seitentüren, ehe der Wagen auf die Gegenfahrbahn geschleudert wurde, noch immer mit dem Mazda huckepack. Ein Felsbrocken schlitzte die Motorhaube des Opels auf.
    Siebenhundertundzweiundvierzigtausend Zuschauer hielten den Atem an.
    Alle warteten auf eine Explosion, die nicht kam.
    Das einzige, was aus den Lautsprechern der Fernseher drang, war das Knattern des Hubschraubers, der jetzt nur fünfzig Meter über der Unglücksstätte schwebte. Der Kameramann zoomte den Mann ins Bild, der noch vor wenigen Sekunden mit einem geknackten Auto auf der Flucht vor der Polizei gewesen war. Laffen Sørnes hing seitlich aus dem zerbrochenen Seitenfenster. Sein Gesicht war dem Himmel zugekehrt, sein Rückgrat schien gebrochen zu sein. Sein Arm, der eingegipste linke Arm, war an der Schulter abgerissen worden und lag einige Meter von den verkeilten Autowracks entfernt.
    »Der ist hin!« johlte der Reporter.
    Dann fiel der Ton ganz aus.
    »Es war am Vorabend des Hauptplädoyers«, sagte Unni Kongsbakken und gab noch einen Schuß Milch in ihre halbleere Kaffeetasse. »Und Sie dürfen nicht vergessen, daß …«
    Ihre vollen grauen Haare waren locker hochgesteckt und wurden von schwarzlackierten japanischen Stäbchen zusammengehalten. An der Seite hatte sich eine Locke gelöst. Mit geübtem Griff steckte sie die Locke wieder fest.
    »Astor war von Aksel Seiers Schuld wirklich überzeugt«, sagte sie dann. »Absolut überzeugt. Immerhin sprach sehr viel gegen diesen Mann. Er hatte sich außerdem in Widersprüche verwikkelt und sich seit seiner Festnahme als wenig kooperativ erwiesen. Und das vergißt man ja leicht …«
    Sie unterbrach sich und holte Atem. Inger Johanne konnte sehen, daß Unni Kongsbakken jetzt erschöpft war, obwohl sie erst seit einer Viertelstunde hier saßen. Ihr rechtes Auge war rot unterlaufen, und Inger Johanne hatte zum ersten Mal den Eindruck, daß Unni Kongsbakken zögerte.
    »… so viele Jahre später«, seufzte sie. »Astor war … überzeugt. So wie es sich ergab, so wie ich … Nein, jetzt rede ich wohl Unsinn.«
    Ihr Lächeln war verlegen und fast verwirrt.
    »Hören Sie«, sagte Inger Johanne und beugte sich zu Unni Kongsbakken vor. »Ich finde wirklich, daß wir warten sollten. Wir können uns doch später treffen. Nächste Woche.«
    »Nein«, erwiderte Unni Kongsbakken unerwartet heftig. »Ich bin alt. Ich bin nicht hilflos. Lassen Sie mich weiterreden. Astor saß in seinem kleinen Arbeitszimmer. Er brauchte immer sehr viel Zeit für die Vorbereitung seiner Plädoyers. Schrieb sie nie aus. Machte sich nur Stichwörter, eine Art Exposé auf Karteikarten. Viele glaubten, er schüttele alles aus dem Ärmel …«
    Sie lachte trocken.
    »Astor schüttelte gar nichts aus dem Ärmel. Und es war kein Vergnügen, ihn bei der Arbeit zu stören. Aber ich war in der Waschküche gewesen. In einer Ecke, hinten, hinter den Rohren, hatte ich Asbjørns Kleidung gefunden. Einen Pullover, den ich gestrickt hatte, noch vor … ich hatte mich als Teppichkünstlerin noch nicht etabliert. Der Pullover war voller Blut. Richtig blutgetränkt. Ich

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