In kalter Absicht
Johanne. »Sie schnappt doch alles auf. Jedenfalls …«
Sie richtete sich auf. Kristiane setzte sich in eine Schlammpfütze und summte vor sich hin.
»Von ihrem Gewährsmann, dem Gefängnispastor, hörte sie dann, daß eine alte Frau aus Lillestrøm bei der zuständigen Wache erschienen war. Sie hatte sich schon lange mit einem bösen Geheimnis herumgequält. Ihr erwachsener Sohn, der leicht zurückgeblieben war und bei ihr lebte, war in der Nacht, in der die kleine Hedvig verschwand, erst in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen. Seine Kleidung war blutverschmiert und er selbst völlig durcheinander. Die Frau hatte sofort einen Verdacht, als dann die Sache mit Hedvig bekannt wurde. Aber sie wollte nicht darüber reden. Das ist vielleicht nicht so schwer zu …«
Sie schaute zu ihrer Tochter hinüber.
»Jedenfalls … der Sohn war inzwischen tot. Die Sache wurde von Polizei und Anklagebehörden mächtig heruntergespielt. Die Frau wurde fast als Hysterikerin abgetan. Aber wie auch immer, nur wenige Wochen darauf wurde unser Freund Aksel Seier entlassen. In aller Stille. Keine Zeitung schrieb darüber. Alvhild hörte nie mehr etwas.«
Der Nebel hatte sich gelichtet; nur die niedrige Wolkendecke zog langsam über die Baumwipfel im Osten. Es regnete jetzt heftig. Ein triefnasser englischer Setter umrundete Kristiane, bellte leise und rannte hinter den Steinen her, die sie mit entzücktem Geheul von sich schleuderte.
»Aber warum erzählt diese … Alvhild Sofienberg?«
»Mhm.«
»Warum erzählt sie dir das alles erst jetzt? Fünfund … fünfunddreißig Jahre später?«
»Weil ihr im vergangenen Jahr etwas Seltsames passiert ist. Der Fall hat ihr die ganze Zeit zu schaffen gemacht. Jetzt ist sie pensioniert und wollte sich die Sache noch einmal genauer ansehen. Sie hat sich an das Regionalarchiv und an das Reichsarchiv gewandt, um sich die Unterlagen geben zu lassen. Aber die sind nicht mehr vorhanden.«
»Was?«
»Sie sind verschwunden. Sie liegen nicht im Reichsarchiv. Und auch nicht im Regionalarchiv. Die Osloer Polizeibehörden können sie nicht finden und die für Lillestrøm zuständigen auch nicht. Mehr als ein Meter Unterlagen ist ganz einfach verschwunden.«
Kristiane hockte jetzt nicht mehr am Wasser. Sie kam auf sie zu, naß und von Kopf bis Fuß verdreckt.
»Ich bin ja froh, daß du jetzt nicht mit mir fährst«, sagte er und ging vor ihr in die Hocke. »Aber wir sehen uns am Nationalfeiertag, okay?«
»Kriegt Papa einen Kuß, ehe wir fahren?« fragte Inger Johanne.
Willenlos ließ Kristiane sich umarmen; ihr Blick war in weite Ferne gerichtet.
»Glaubst du, daß du da was machen kannst, Isak?«
Er ließ das Kind nicht aus den Augen.
»Natürlich. Ich bin ein Zauberer, weißt du. Wenn Aksel Seier noch lebt, habe ich seine neue Adresse in weniger als einer Woche ausfindig gemacht. Garantiert.«
»In diesem Leben gibt es keine Garantien«, sagte Inger Johanne kurz. »Aber danke, daß du es versuchen willst. Wenn es überhaupt jemand schaffen kann, dann du.«
» Sure thing«, sagte Isak und stieg in seinen TT . »Bis Mittwoch.«
Sie starrte dem Wagen hinterher, bis er hinter den Hügeln in Richtung Kringsjå verschwand.
Isak würde nie etwas anderes sein als ein großer Junge. Sie hatte das nur nicht rechtzeitig begriffen. Früher einmal, vor Kristiane, hatte sie seine Schnelligkeit bewundert, seinen Eifer, seinen Optimismus; den kindlichen Glauben daran, daß alles sich in Ordnung bringen ließe. Er hatte eine ganze Zukunft auf seinem vorbehaltlosen Selbstvertrauen aufgebaut; Isak gründete eine Dot.com-Firma, als die meisten noch nicht einmal wußten, was das war, und er war clever genug, sie rechtzeitig zu verkaufen. Jetzt vergnügte er sich einige Stunden am Tag in der virtuellen Realität, segelte Regatten und half in seiner Freizeit der Heilsarmee bei ihrer Suche nach Verschwundenen.
Inger Johanne hatte das Lachen geliebt, mit dem er der Welt begegnete. Sein Schulterzucken, mit dem er reagierte, wenn die Dinge ein wenig zu kompliziert wurden, machte ihn so attraktiv und so anders als sie.
Dann war Kristiane gekommen. Die erste Zeit versank in Herzoperationen, durchwachten Nächten und Angst. Als sie endlich nach der ersten ungestörten Nachtruhe aufwachten, war es zu spät. Trotzdem hielten sie noch ein Jahr so etwas wie eine Ehe aufrecht. Ein zweiwöchiger Aufenthalt im Staatlichen Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, auf der vergeblichen Jagd nach einer Diagnose
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