Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
Vom Netzwerk:
schämen. Trauern. Nicht so sehr wegen der sexuellen Handlung an sich. Was die angeht, haben sie eine bemerkenswerte Fähigkeit, sie zu verdrängen. Aber wegen des Mordes. Weil das Kind sterben mußte.«
    »Worauf willst du eigentlich hinaus?«
    Er leerte sein Milchglas und klopfte sich auf den Bauch.
    »Jemand, der völlig unschuldige Kinder umbringt … sie raubt, sie tötet und sie mit einem grotesken Begleitschreiben an die Eltern zurückschickt … solche Taten setzen eine Psyche voraus, die es ihm ermöglicht, seine Taten zu rechtfertigen.«
    »Sie sind in seinen Augen nur recht und billig. Mit anderen Worten, er ist verrückt.«
    Yngvar fingerte an einer Zigarrenhülse in seiner Brusttasche herum.
    »Nein. Er ist nicht verrückt. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Er ist nicht psychotisch. Denn dann könnte er diese Sache niemals durchziehen. Vergiß nicht, wie … wie ausgefeilt seine Verbrechen sind. Wie genau durchdacht das alles sein muß. Aber … die Frage ist ja, was du unter verrückt verstehst. Eine zerstörte … Seele? Ja. Geisteskrank? Kaum.«
    »Aber er findet es in Ordnung, Kinder umzubringen. Willst du das sagen? Daß er es in Ordnung findet, Kinder umzubringen, aber trotzdem nicht geisteskrank ist?«
    »Ja. Oder eigentlich nein. Möglicherweise findet er es schon bedauerlich, daß die Kinder sterben müssen. Aber er hat ein höheres Ziel. Eine Aufgabe, könnten wir vielleicht sagen. Eine Art … Auftrag?«
    »In wessen Namen?«
    Die Hülse glitt zwischen seinen Fingern hin und her. Das rauhe Metall schabte fast unhörbar über trockene Haut.
    »Keine Ahnung«, sagte sie kurz.
    Du führst mich an der Nase herum, ging ihr auf. Hier sitze ich und verbreite mich über Selbstverständlichkeiten, die du dir schon längst selbst überlegt hast. Wie viele Mordfälle hast du schon bearbeitet? Mit wie vielen Mördern mit gestörter Psyche hast du schon zu tun gehabt? Du hast dicke Bücher über dieses Thema gelesen. Du angelst. Du glaubst, daß ich schon angebissen habe. Aus irgendeinem absurden Grund ist es wichtig für dich, mich mit ins Boot zu holen. Aber ich lasse mich nicht austricksen.
    » Kaffee?« fragte sie leichthin und füllte Wasser in die Kanne.
    »Du weißt, wie ein Profiler arbeitet«, sagte Yngvar.
    Sie ließ sich das Wasser über das Handgelenk laufen. Die Kanne war schon längst voll.
    »Als erstes hättest du alle unsere Unterlagen gelesen«, sagte Yngvar dann. »Alles, was wir an technischen Ergebnissen und objektiven Fakten haben. Dann hättest du von jedem Opfer ein Profil erstellt. Was in diesem Fall ziemlich einfach wäre, da es sich um Kinder handelt. Und unfaßbar kompliziert, denn du würdest auch Profile von ihren Eltern machen müssen, um das Bild zu vervollständigen. Dann würdest du langsam, von Grund auf, unseren Mann zusammenbauen. Wenn du recht hast, meine ich. Wenn es sich wirklich um einen Mann handelt. Das hättest du gemacht. Wenn du nur bereit wärst, mir zu helfen.«
    Die Intensität seines letzten Satzes machte ihr angst. Sie drehte das Wasser ab und hätte die Kanne fast auf den Boden fallen lassen.
    »Warum? Warum?«
    Sie fuhr herum und schlug mit der freien Hand auf den Küchentisch.
    »Kannst du mir auch nur einen guten Grund dafür nennen, daß ein erfahrener Kriminalpolizist eine Menge Energie und gelinde gesagt seltsame Methoden aufwendet, um eine armselige Wissenschaftlerin um Hilfe in einem Fall zu bitten, der so grotesk ist, daß wir hierzulande kaum je etwas Ähnliches erlebt haben? Kannst du das? Kannst du erklären, warum du offenbar nicht imstande bist, ein Nein zu akzeptieren?«
    Es wurde still. Er starrte seine Hände an. Inger Johanne kehrte ihm den Rücken zu. Die Kaffeemaschine gurgelte. Vor dem Küchenfenster, auf der kleinen Straße, die für Autos eigentlich gesperrt war, fuhr ein roter Golf langsam von einem Briefkasten zum nächsten.
    »Ich riskiere«, sagte Yngvar leise und nach Worten suchend, »daß du mich ebenso verrückt findest wie … Daß du glaubst, ich hätte den Verstand verloren.«
    Sie drehte sich noch immer nicht um. Der Mann im roten Golf hatte vor Nummer 16 angehalten.
    »In jüngeren Jahren war ich in gewisser Hinsicht stolz darauf«, sagte er ebenso leise. »Ich habe sogar damit geprotzt. Mit meiner Intuition. Die Jungs haben mich SH genannt. Stubø Hellseher. Ich … ich bin aber nicht wirklich hellsichtig. Ich glaube eigentlich nicht daran. Ich kann nicht sehen, wo verschwundene Menschen sich aufhalten. Aber

Weitere Kostenlose Bücher