In kalter Absicht
so aus. Seine Haut war glatt und dicht, ohne grobe Poren. Das Weiße in seinen Augen war sehr weiß. Vielleicht trank Yngvar Stubø also nie.
»Hier hast du deinen Wein«, sagte sie zu Line. »Ich glaube, ich begnüge mich mit einer Tasse Tee.«
31
Das Fahren war angenehm. Auch wenn es kein besonders tolles Auto war, nur ein sechs Jahre alter Opel Vectra, saß man gut in ihm. Er hatte erst vor kurzem die Stoßdämpfer erneuert. Es war ein guter Wagen. Es war eine gute Anlage. Es war gute Musik.
»Gut. Gut. Gut.«
Er gähnte und strich sich über die Stirn. Durfte nicht einschlafen. Er war ununterbrochen gefahren und näherte sich jetzt Lavangsdalen. Vor fünfundzwanzig Stunden hatte er zu Hause die Garage verlassen. Na ja, Garage war vielleicht übertrieben. Aber die alte Scheune war ein brauchbarer Unterstand für sein Auto und für allerlei Kram, den er einfach nicht wegwerfen mochte. Man wußte schließlich nie, wann man ihn noch einmal brauchen würde. Jetzt zum Beispiel war er ungeheuer froh darüber, daß er sich nie von den alten Kanistern getrennt hatte, die der Vorbesitzer dort hinterlassen hatte. Auf den ersten Blick hatten sie rostig ausgesehen, aber nach einer Runde mit der Stahlbürste waren sie so gut wie neu. Er hatte seit vielen Wochen Benzin gehortet. Hatte unten bei Bob vor dem Supermarkt ganz normal getankt; nicht zu oft, nicht zu viel, weder mehr noch weniger als sonst in der ganzen Zeit, seit er die alte Kätnerstelle bezogen hatte. Wenn er dann nach Hause gekommen war, hatte er einige Liter in einen Kanister abgezapft. Auf diese Weise hatte er nach und nach einen Vorrat von zweihundert Litern angelegt. Er brauchte auf dem Weg nach Norden also nicht zu tanken. Er brauchte sich auch nichts zu kaufen. Brauchte keine Pausen einzulegen, bei denen er gesehen werden könnte. Brauchte kein Geld mit Fingerabdrükken zu hinterlassen. Sich keiner Videokamera zu stellen. Er war unterwegs in einem ziemlich verschmutzten dunkelblauen Opel Vectra, ganz normal. Ein Niemand, der einen Auflug unternahm. Die Nummernschilder waren verdreckt und kaum zu entziffern. Was aber nicht weiter auffiel, denn in Nordnorwegen war der Frühling gerade erst angebrochen.
In Lavangsdalen lag noch immer schmutziggrauer Schnee zwischen den Bäumen. Es war sieben Uhr am Sonntag morgen. Ihm war schon seit mehreren Minuten kein Wagen mehr begegnet. In einer sanften Kurve drosselte er sein Tempo. Der Waldweg, den er nun erreichte, war feucht und vom Frost aufgebrochen. Trotzdem kam er gut voran. Hinter einer Felskuppe hielt er an. Stellte den Motor ab. Wartete. Horchte.
Niemand konnte ihn sehen. Er nahm die Armbanduhr ab. Eine große schwarze Taucheruhr. Mit Wecker. Er wollte zwei Stunden schlafen.
Zwei Stunden, mehr brauchte er nicht.
32
»Etwas anderes war wohl auch nicht zu erwarten.«
Alvhild Sofienberg nahm die Nachricht von Aksel Seiers Verschwinden überraschend gelassen hin. Sie hob leicht ihre schmalen Augenbrauen. Dann fuhr sie sich zerstreut mit dem Finger über ihre flaumige Oberlippe und schmatzte fast unhörbar, als sitze ihr Gebiß locker.
»Die Götter mögen wissen, wie ich auf eine solche Nachricht reagiert hätte. Es ist sicher schwer, sich da hineinzuversetzen. Unmöglich. Aber es schien ihm gutzugehen?«
»Auf jeden Fall. Obwohl … Nach dieser kurzen Begegnung kann ich ja eigentlich kaum etwas über sein Leben sagen. Aber er wohnt ganz fantastisch. Am Meer. An einem wunderschönen Strand. Sein Haus ist auch in Ordnung. Er scheint sich dort … eingefügt zu haben. In die Umgebung, meine ich. Die Nachbarn kennen ihn und mögen ihn. Mehr kann ich nicht sagen.«
»Fabelhaft«, murmelte Alvhild.
»Auf jeden Fall den Umständen nach«, sagte Inger Johanne.
»Ich meine diesen neuen Computerkram.«
Alvhild schwenkte vage die Finger.
»Daß es weniger als eine Woche gedauert hat, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Fabelhaft. Einfach fantastisch.«
»Internet.«
Inger Johanne lächelte.
»Du hast keine Lust, dir einen Internetzugang zu beschaffen? Das wäre ganz toll für dich, wo du doch …«
»Hier so ungefähr im Sterben liegst«, sagte Alvhild kurz. »Das fehlte gerade noch. Ich habe meine IBM -Kugelkopfschreibmaschine von 1982. Die ist leider ein wenig zu schwer, um sie auf den Schoß zu nehmen, aber wenn es gehen muß, dann geht es eben doch.«
Sie schaute zum Schreibtisch vor dem Fenster hinüber, auf dem eine himbeerrote Schreibmaschine mit einem eingespannten Blatt
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