In kalter Absicht
die Mutter gerichtet«, sagte Inger Johanne. »Auch wenn der Mörder natürlich nicht wissen konnte, daß wirklich die Mutter hinfinden würde. Ebensogut hätte doch der Vater zufällig in den Keller hinuntergehen können. Und bei Sarah haben wir Grund zu der Annahme, daß der Mörder eingesehen hat, daß das Paket diese Adresse niemals erreichen würde. Er ist nicht dumm. Ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist wichtiger, sich den Inhalt der Nachricht anzusehen, statt darüber zu spekulieren, an wen sie gerichtet war.«
»Was meinst du mit Inhalt?«
Yngvar drehte die Herdplatte an und zog eine Bratpfanne aus dem unteren Regal, ohne auch nur danach zu fragen, wo sie aufbewahrt wurde. Inger Johanne hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und starrte konzentriert in ein Glas Wasser mit Eiswürfeln.
»Ich glaube übrigens, daß man an einem ganz anderen Ende anfangen sollte«, sagte sie langsam.
»Ach. Und an welchem?«
Er trocknete sich die Augen.
»Man sollte immer ganz unten anfangen«, sagte sie fast geistesabwesend, als suche sie in ihrem Gedächtnis nach etwas. »Nachsehen, was man hat. Tatsachen. Objektive Fundstücke. Von Grund auf alle Stücke zusammenlegen. Niemals spekulieren, ehe man ein Fundament hat. Gefährlich.«
»Das sollte man also.«
»Ja.«
Sie setzte sich aufrecht hin und schob das Glas zurück. Vom Herd her duftete es lecker. Yngvar nahm Teller und Gläser, Messer und Gabeln aus dem Schrank. Er sah zutiefst konzentriert aus, als er eine Tomate zu einer hübschen Dekoration zurechtschnitt.
»Schau mal«, sagte er zufrieden und stellte die Bratpfanne auf den Tisch. »Zwiebelomelette. Das nenne ich ein gutes Mittagessen.«
»Drei Kinder«, sagte sie und kaute langsam. »Wenn wir voraussetzen, daß Emilie vom selben Täter entführt worden ist wie Sarah und Kim. Was wir eigentlich nicht voraussetzen können, aber egal … im Moment tun wir das. Drei Kinder sind verschwunden. Zwei werden zurückgebracht. Tot. Tote Kinder.«
»Tote Kinder«, wiederholte Yngvar und legte die Gabel weg. »Wir wissen nicht einmal, woran sie gestorben sind.«
»Warte!«
Sie hob die Hand und sagte dann:
»Wer bringt Kinder um?«
»Sexualverbrecher und Autofahrer«, murmelte er wütend.
»Genau.«
»Hmmm?«
»Diese Kinder sind keinem Autofahrer zum Opfer gefallen. Und nichts weist darauf hin, daß sie von einem Sexualverbrecher ermordet wurden. Stimmt doch, oder?«
Er nickte kurz.
»Es müßte sich denn um sexuelle Übergriffe handeln, die keine Spuren hinterlassen«, sagte er. »Das ist natürlich denkbar.«
»Was bleibt uns aber, wenn es sich weder um Sex noch um Autounfälle handelt?«
»Nichts«, sagte er und füllte seinen Teller zum zweiten Mal.
»Du ißt zu schnell«, sagte sie. »Und du irrst dich. Wir haben sehr viel mehr. Ihr, meine ich. Ihr habt noch sehr viel mehr.«
Das Omelett schmeckte ihr. Ein bißchen viel Zwiebeln, vielleicht, aber ein Spritzer Tabasco gab ihm einen besonderen Pfiff.
»Tatsache ist, daß wir Kinder nur sehr ungern umbringen. Du und ich, wir wissen beide, daß die allermeisten Morde hierzulande im Affekt begangen werden. Die Rückfallquote unter Mördern ist minimal. Mord ist in der Regel die Folge eines lange schwelenden Familienkonflikts, schrecklicher Eifersucht oder … ein purer Unglücksfall. Streiterei im Suff. Ein Wort gibt das andere. Dann liegt eine Waffe da, ein Messer oder ein Schrotgewehr. Peng. Jemand wird zum Mörder. So ist das. Das wissen wir beide. Kinder sind ungeheuer selten in solche Dinge verwickelt, zumindest als Opfer. Außer in übertragenem Sinn natürlich.«
»Wenn wir Teenager auslassen. Die bringen sich immer häufiger gegenseitig um. Sie werden jünger und jünger. Ich glaube, ich würde einen Vierzehnjährigen als Kind bezeichnen. So alt war der Knabe, der im Januar festgenommen worden ist. Ich glaube, er ging auf die Schule in der Møllergate.«
Inger Johanne verdrehte kurz die Augen.
»Sicher. Aber auch bei diesen Cliquenmorden geht es um Rivalität. Um falsch verstandene Ehre. Sie bringen sich gegenseitig um, andere aber nur selten. Außenstehende. Und was die Sexualverbrecher angeht, so morden die vor allem, um ihr Verbrechen zu vertuschen. Den Mißbrauch. Der Mord hat nur sehr selten etwas mit den sexuellen Übergriffen zu tun. Sexualverbrecher morden, weil ihnen einfach nichts anderes übrigbleibt. Ich habe mit vielen gesprochen, und manche können mit der Erinnerung an das, was sie getan haben, kaum leben. Sie können bereuen. Sich
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