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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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ich … ich rede nicht mehr darüber. Die Kollegen fingen plötzlich an, mich seltsam anzusehen. Tuschelten in den Ecken und hinter meinem Rücken. Ich hielt einfach die Klappe. Aber ich habe diese Fähigkeit … nein, nicht Fähigkeit. Diese Tendenz. Ich habe eine Tendenz, die Fälle zu spüren, an denen ich arbeite. Ich kann das nicht richtig erklären. Es entsteht eine Art Zustand der Überempfindsamkeit. Ich träume meine Fälle. Sehe Dinge.«
    Der Fahrer des roten Golf warf eine Kippe aus dem Fenster und wendete. Inger Johanne konnte nicht sehen, was er geliefert hatte, aber der Deckel des Briefkastens von Nummer 16 ließ sich nicht mehr richtig schließen.
    »So schlimm kann das doch nicht sein«, sagte sie leichthin. »Alle guten Ermittler brauchen Intuition. Das hat nichts Paranormales oder Übernatürliches. Intuition ist nichts anderes als die Reaktion des Unterbewußtseins auf eine Reihe bekannter Faktoren. Sie gibt uns Antworten, die wir durch bewußte Kalkulation nicht erreichen können.«
    Endlich drehte sie sich um.
    »Manche nennen es Klugheit«, sagte sie und lächelte flüchtig. »Vielleicht wird es deshalb meistens als weibliche Eigenschaft betrachtet. Aber was hat das alles mit mir zu tun?«
    »Ich habe dich im Fernsehen gesehen«, sagte er. »Und war beeindruckt. Ich hatte gleich Lust, mit dir zu reden. Am nächsten Tag hatte ich das schon wieder vergessen. Doch dann hat mich ein Freund aus den USA angerufen. Warren Scifford.«
    »Warren Sci …«
    »Genau. FBI .«
    Sie spürte, daß ihre Arme sich mit Gänsehaut überzogen, plötzlich und unangenehm.
    »Wir haben routinemäßig Interpol über die Entführungen informiert. Warren war in Verbindung mit einem anderen Fall darauf gestoßen. Deshalb rief er an. Ich hatte seit über einem halben Jahr nicht mehr mit ihm geredet. Am Ende des Gesprächs fragte er, ob mir zufällig eine gewisse Inger Johanne Vik bekannt sei. Als ich ihm erzählte, wie es dir geht und was du so machst, hat er mir geraten, mich an dich zu wenden. Und ich habe wirklich noch nie eine dermaßen dringliche Empfehlung gehört. Der Tag verging, und ich hatte viel zu tun. In der Nacht hatte ich dann einen Traum. Oder, genauer gesagt, einen Alptraum. Ich will dich nicht mit den Details quälen. Sonst würdest du mich auf jeden Fall für verrückt halten.«
    Er lachte, kurz und angestrengt.
    »Aber du spieltest eine Rolle in diesem Traum, eine Rolle, die es für mich wichtig macht, mit dir zu reden. Du mußt mir helfen. Aber das willst du nicht. Also gehe ich jetzt.«
    »Nein.«
    Sie setzte sich wieder, auf den Stuhl, Yngvar genau gegenüber.
    »Ich hoffe, daß Warren dir keinen falschen Eindruck vermittelt hat. Ich bin keine Profilerin. Ich habe nur diesen Kurs besucht und …«
    »Und warst die Bes …«
    »Warte«, fiel sie ihm ins Wort und starrte ihm in die Augen. »Du hast mich betrogen. Du hast mich hinters Licht geführt, indem du mir nicht gesagt hast, daß du schon die ganze Zeit weißt, welchen Hintergrund ich habe. Das ist keine sonderlich gute Grundlage für eine Zusammenarbeit.«
    Sie hätte schwören können, daß er rot wurde; es war eine schwache Wärme gleich unter seinen Augen.
    »Aber ich gebe dir trotzdem fünf Minuten, um mir zu erzählen, was du dir so denkst«, sagte sie dann und schaute zur Uhr im Herd hinüber. »Fünf Minuten.«
    »Diese Ermittlung ist das pure Chaos«, sagte er ehrlich. »In diesem Chaos gibt es irgendwo eine Ordnung, aber die verliere ich in immer kürzeren Abständen aus dem Blick. Nach dem ersten Kind, nach Emilie, war alles übersichtlich. Ich hatte die Hauptverantwortung. Wir waren eine begrenzte Ermittlergruppe. Danach ist der ganze Fall explodiert. Durch die extreme Aufmerksamkeit der Medien, die wir jetzt erleben, ist alles auf eine höhere Ebene gehoben worden. Alle Mitteilungen müssen über den Kripo-Chef laufen. Und da er kaum etwas anderes schafft, als die ganze Zeit mit den Medien zu reden, ist er nie richtig auf dem laufenden. Ab und zu nimmt er den Mund zu voll, und wir weiter unten im System müssen es dann ausbaden. Ich will das nicht kritisieren. Wirklich nicht. Ich beneide niemanden um die Aufgabe, der Öffentlichkeit über einen Fall Rede und Antwort stehen zu müssen, bei dem Kinder wie die Fliegen sterben und …«
    Er schaute zur Kaffeemaschine hinüber. Dann stand er auf und goß den Inhalt in eine blaue Thermoskanne.
    »…  wir nicht eine einzige verdammte Spur haben«, beendete er seinen Satz mit

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