In kalter Absicht
bereitstand.
»Ich führe keine großen Korrespondenzen mehr. Es spielt also keine Rolle. Ich habe mein Haus bestellt. Meine Kinder besuchen mich jeden Tag. Ihnen fehlt es an nichts, und soweit ich das beurteilen kann, sind sie einigermaßen glücklich. Die Enkelkinder machen sich offenbar gut. Sie schauen sogar manchmal vorbei, ohne allzu deutlich werden zu lassen, daß sie dazu abkommandiert worden sind. Ich brauche nicht mal ein Telefon. Aber wenn ich noch jünger wäre …«
»Du hast so schöne Augen«, sagte Inger Johanne und schluckte. »Sie sind so … blau. Sie sind so unbeschreiblich blau.«
Alvhilds Lächeln war neu, ein Lächeln, das Inger Johanne nicht verdient hatte. Sie senkte den Kopf und schloß die Augen. Alvhilds Finger strichen ihr über das Kinn, trocken und hart, wie die Zweige eines toten Baumes.
»Jetzt hast du mir eine Freude gemacht, Inger Johanne. Mein Mann hat das auch gesagt. Immer wieder.«
Es klopfte an der Tür. Inger Johanne erhob sich rasch und trat vom Bett zurück, als sei sie bei etwas Verbotenem erwischt worden.
»So, und jetzt wollen wir unser Nickerchen halten«, sagte die Krankenschwester.
»Man wird hier total entmündigt«, klagte Alvhild und verdrehte die Augen.
Inger Johanne durfte ihren Arm nicht zurückziehen. Alvhilds Hand hatte sich wie eine Klaue um ihr Handgelenk geschlossen.
»Du meinst, du könntest jetzt einfach verschwinden?«
Die Schwester stellte sich ungeduldig neben das Bett, stemmte die Hände in die Seiten und schaute grimmig drein.
»Noch einen Augenblick«, sagte Alvhild energisch. »Ich muß dieser jungen Dame noch etwas sagen. Wenn Sie für einen Moment draußen warten, bin ich gleich zur Mittagsruhe bereit.«
Die Weißgekleidete zog sich nur widerwillig zurück, so als ob sie Inger Johanne böse Absichten zutraute. Sie konnten hören, daß sie nicht weit ging, und die Tür ließ sie einen Spalt offen.
»Ich glaube nicht, daß ich jetzt noch viel mehr tun kann«, sagte Inger Johanne unsicher. »Ich habe die Unterlagen gelesen. Ich stimme dir zu. Alles spricht dafür, daß Aksel Seier ein gewaltiges Unrecht widerfahren ist. Ich habe den Mann gefunden, ich bin über den Ozean gereist und habe mit ihm gesprochen. Wenn hier überhaupt von einem Auftrag die Rede gewesen sein kann, dann ist der jetzt ausgeführt.«
Alvhild lachte, ein heiseres Lachen, das in einen trockenen Husten umschlug.
»So leicht geben wir uns doch nicht geschlagen, Inger Johanne.«
»Aber was …«
»Es muß eine Todesanzeige geben.«
»Was?«
»Die ältere Frau, die sich 1965 an die Polizei gewandt hat. Die ihren Sohn für den wahren Täter hielt. Was zu Aksel Seiers Freilassung führte. Diese Frau ging erst zur Polizei, als ihr Sohn tot war. Ich weiß über diese Frau nur, daß sie in Lillestrøm gewohnt hat. Du und dein Internet … Kannst du eine Todesanzeige finden, die im Juni 1965 in einer Lokalzeitung gestanden hat? Es muß sich um eine Anzeige handeln, bei der nur eine Angehörige aufgeführt ist.«
Inger Johanne sah verstohlen zur Tür hinüber. Draußen bewegte sich ungeduldig etwas Weißes hin und her.
»Nur eine Angehörige? Woher weißt du das?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Alvhild. »Ich nehme es an. Es handelte sich um einen erwachsenen Sohn, der bei seiner Mutter wohnte. Meiner einzigen Quelle zufolge, dem Gefängnispastor, war der Sohn offenbar geistig zurückgeblieben. Mir kommt das vor wie eins von diesen traurigen …«
Sie winkte ab.
»Genug davon. Versuch es.«
Die Geduld der Schwester war am Ende.
»Jetzt muß ich aber energisch werden. Frau Sofienberg braucht soviel Ruhe wie möglich.«
Inger Johanne lächelte Alvhild zaghaft an.
»Wenn ich Zeit dazu habe, gern …«
»Die Zeit hast du, meine Liebe. In deinem Alter hast du alle Zeit der Welt.«
Inger Johanne konnte sich nicht einmal richtig verabschieden. Erst auf der Straße fiel ihr ein, daß es in Alvhilds Schlafzimmer nicht mehr nach Zwiebeln roch. Und ihr fiel etwas ein, woran sie seit ihrer Rückkehr aus den USA nicht mehr gedacht hatte. Sie hatte bei Aksel Seier etwas gesehen, etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, nur eben zu spät. Aus irgendeinem Grund hatte etwas sie daran erinnert, oben bei Alvhild, im Laufe ihres Gesprächs mit der alten Dame. Etwas, das gesagt worden war, oder etwas, das sie gesehen hatte.
Auf dem Heimweg bekam sie Kopfschmerzen.
»Er heißt König von Amerika.«
»Was?«
Es war das häßlichste Tier, das Inger Johanne jemals gesehen
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