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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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grob skizzierte Karte, die am Fenster klebte.
    »Er sagt, daß ihm im aktuellen Zeitraum drei Personen aufgefallen sind. Eine Frau mittleren Alters in einem roten Mantel, die er zu kennen glaubt. Ein kleiner Junge auf einem Fahrrad, den wir wohl ausschließen können. Beide waren auf dem Weg die Straße hinunter, also in Richtung Tatort. Aber der Professor hat auch einen Mann gesehen, einen Typen, den er auf fünfundzwanzig bis fünfunddreißig schätzt. Der kam aus der Gegenrichtung …«
    Wieder wanderte der Löffel über das Papier.
    »… auf Langnesbakken zu. Das war kurz nach drei. Unser Zeuge weiß das so gut, weil seine Frau gleich darauf aus dem Haus kam und fragte, wann es Essen geben sollte. Er schaute auf die Uhr und meinte, er werde mit der Arbeit bis fünf Uhr fertig sein.«
    »Und ihm fiel also etwas an dem Gang dieses Mannes auf …«
    Inger Johanne musterte die Karte aus zusammengekniffenen Augen.
    »Ja. Dieser Professor hat das so beschrieben …«
    Yngvar wühlte in seinen Papierstapeln.
    »…›jemand, der sich beeilt, ohne zeigen zu wollen, daß er sich beeilt.‹«
    Inger Johanne nickte skeptisch in Richtung des Notizzettels.
    »Und woran sieht man das?«
    »Er meinte, daß der Mann langsamer ging, als er wirklich wollte, daß er wohl lieber gerannt wäre, sich aber nicht traute. Scharf beobachtet, ich muß schon sagen. Wenn es zutrifft. Ich habe auf dem Weg hierher versucht, so zu gehen, und es kann schon stimmen. Die Bewegungen bekommen dann sozusagen etwas Stakkatohaftes, etwas Gefesseltes und Unfreiwilliges.«
    »Kann er den Mann noch näher beschreiben?«
    »Leider nicht.«
    Die Drachentasse hatte sich während der Nacht auch noch den letzten Flügel gebrochen. Jetzt sah sie jämmerlicher aus denn je, wie ein zahmer, flügellahmer Hahn. Yngvar goß sich einen Schuß Milch in den Kaffee.
    »Abgesehen vom ungefähren Alter. Und davon, daß er graue oder blaue Kleidung trug. Oder beides. Sehr neutral.«
    »Vernünftig von ihm. Wenn es sich wirklich um unseren Mann handelt.«
    »Und dann hatte er Haare. Dichte, kurzgeschnittene Haare. Mehr kann der Professor nicht garantieren. Wir werden natürlich alle, die in der Gegend waren, auffordern, sich zu melden. Und dann sehen wir weiter.«
    Inger Johanne rieb sich das Kreuz und schloß die Augen. Sie fühlte sich ziemlich zerschlagen. Am Himmel zeigte sich das erste Morgenlicht. Plötzlich fing sie an, alle Zettel zusammenzuraffen, die Plakate von der Wand zu reißen, Karten und Tabellen einzusammeln. Sorgfältig brachte sie alles in ein offenbar durchdachtes System. Die Zettel kamen in Umschläge. Die großen Blätter wurden ordentlich aufeinandergelegt. Schließlich schob sie alle in den alten Pilotenkoffer und nahm eine Dose Cola aus dem Kühlschrank. Sie schaute Yngvar fragend an, und der schüttelte den Kopf.
    »Ich gehe schon«, versicherte er. »Natürlich.«
    »Nein«, sagte sie. »Jetzt fangen wir doch erst an. Wer tötet Kinder?«
    »Diese Übung haben wir schon hinter uns«, sagte er zögernd. »Wir sind übereingekommen, daß Autofahrer und Sexualverbrecher das tun. Wenn ich es mir richtig überlege, kommt es mir ungeheuer albern vor, in diesem Zusammenhang die Autofahrer zu erwähnen.«
    »Und doch sind es vor allem die Autofahrer, die hierzulande Kinder umbringen«, erwiderte sie trocken. »Aber egal. Hier geht es um Haß. Um irgendeine Form von verquerem Gerechtigkeitssinn.«
    »Woher weißt du das?«
    »Ich weiß gar nichts. Ich denke nach, Yngvar.«
    Das Weiß in seinen Augen war nicht mehr weiß. Yngvar Stubø sah aus wie nach einer dreitägigen Zechtour, und sein Geruch verstärkte diesen Eindruck von Verfall noch.
    »Man muß ziemlich intensiv hassen, um das, was dieser Mann tut, rechtfertigen zu können«, sagte Inger Johanne. »Vergiß nicht, er muß damit leben. Muß nachts schlafen. Muß essen. Muß sich vermutlich in einer Gesellschaft bewegen, in der die Verdammung aller ihn von jeder Zeitungsseite herab anschreit, aus jeder Nachrichtensendung, aus den Läden, in denen er einkaufen geht, am Arbeitsplatz vielleicht …«
    »Aber er kann doch nicht … Er kann doch die Kinder nicht hassen!«
    »Schhschh!«
    Inger Johanne hob die Handfläche.
    »Wir reden hier von jemandem, der sich rächt. Sich rächt.«
    »Wofür?«
    »Das weiß ich nicht. Aber hat er sich Kim und Emilie, Sarah und Glenn Hugo ganz zufällig ausgesucht?«
    »Natürlich nicht.«
    »Jetzt ziehst du Schlußfolgerungen, für die wir keine Grundlage haben.

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