In kalter Absicht
hoch, seine Krallen schrammten schmerzhaft über ihre nackten Waden. Sie versuchte ihn wegzuschieben, stolperte jedoch und stieß sich den kleinen Zeh an der Türschwelle zum Flur. Voller Angst, dieser Wer-auch-immer könne noch einmal klingeln, hinkte sie fluchend zur Wohnungstür.
Es war schwierig, seine Augen zu sehen. Die ganze Gestalt kam ihr kleiner vor, seine Schultern hingen vornüber, und sie nahm leichten Schweißgeruch wahr, als er abwehrend die Hand hob. Unter dem Arm trug er einen Pilotenkoffer. Der Griff war zerbrochen, und er hielt ihn wie einen Karton, unförmig und mit offenem Deckel.
»Unverzeihlich«, murmelte er. »Aber ich konnte nicht früher.«
»Wie spät ist es?«
»Ein Uhr. Nachts, meine ich.«
»Das ist mir schon klar«, sagte sie trocken. »Komm rein. Ich zieh mir nur schnell etwas über.«
Er saß in der Küche. Der König von Amerika knabberte an seiner Hand herum. Er sabberte und fiepte und hatte vermutlich Hunger.
»Du meine Güte. Hast du den neu?«
Sie murmelte eine Art Bestätigung und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Sie hätte wissen müssen, daß es Yngvar war. Als sie wach wurde, hatte sie nur gedacht, daß das Klingeln aufhören mußte. Wenn Kristiane um diese Zeit aufwachte, war die Nacht vorbei. Sie zupfte an ihrem verschossenen Sweatshirt. In ihrem Schrank lagen weiß Gott bessere Pullover.
»Wenn du wieder mal nachts aufkreuzt, dann sei so gut und klingel nicht. Ruf an. Ich schalte nachts den Apparat im Wohnzimmer aus. Der andere …«
Sie nickte kurz zu ihrem Schlafzimmer hinüber und schüttete Kaffeepulver in den Filter.
»Der bei mir ist leise gestellt. Er weckt mich und läßt Kristiane schlafen. Das ist wichtig für sie. Und für mich.«
Sie versuchte zu lächeln, doch es wurde ein Gähnen daraus. Müde schloß sie die Augen und schüttelte energisch den Kopf.
»Ich werde es mir merken«, sagte Yngvar. »Tut mir leid. Er hat wieder zugeschlagen.«
Langsam hob sie die Hand zu ihren Haaren, ließ sie dann aber sinken und packte statt dessen einen Schubladengriff.
»Was«, fragte sie tonlos. »Was meinst du mit zugeschlagen?«
Yngvar schlug die Hände vors Gesicht. Seine Stimme klang dadurch gedämpft.
»Einen elf Monate alten Jungen aus Tromsø. Glenn Hugo. Elf Monate. Weißt du das noch nicht?«
»Ich … Ich habe heute abend nicht ferngesehen und kein Radio gehört. Wir … Kristiane und ich haben mit dem Hund gespielt und einen Spaziergang gemacht und … Elf Monate. Elf Monate!«
Dieser Ausruf hing zwischen ihnen in der Luft, lange, als gebe es für den sinnlosen Mord eine verborgene Erklärung, einen Code oder ein Bilderrätsel, versteckt hinter dem Alter des kleinen Opfers. Inger Johanne spürte die Tränen kommen und kniff die Augen zusammen.
»Aber …«
Sie ließ die Schublade los und setzte sich an den Tisch. Er hatte die Hände auf der Tischplatte gefaltet, und sie merkte, daß sie sie gern mit ihren eigenen bedeckt hätte.
»Hat man ihn schon gefunden?«
»Er wurde nicht entführt. Er wurde in seinem Kinderwagen erstickt, während er im Garten seinen Mittagsschlaf hielt.«
Der Hund hatte sich in der Ecke neben der Heizung niedergelassen. Er lag auf der Seite. Inger Johanne versuchte den Blick auf den schmalen Brustkasten zu richten, der sich hob und senkte, hob und senkte. Die Rippen zeichneten sich unter dem weichen kurzen Fell deutlich ab. Die Augen hatte er halb geschlossen, seine Zunge schimmerte feucht und hellrosa durch das gelbbraune Fell.
»Dann war er es nicht«, sagte sie kurz und tonlos, sie mußte nach Luft ringen. »Er erstickt niemanden. Er … er entführt und mordet auf eine Weise, die wir … die wir nicht verstehen. Aber er bringt keine schlafenden Babys um. Es handelt sich nicht um denselben Mann. In Tromsø, hast du gesagt? Hast du Tromsø gesagt?«
Sie schlug leicht mit der Faust auf den Tisch, als liefere die geographische Entfernung ihr den benötigten Beweis: Sie hatten es hier mit einem tragischen, aber doch natürlichen Todesfall zu tun. Mit einem Baby, das an plötzlichem, unerklärlichem Kindstod gestorben war, entsetzlich, das schon, aber man konnte doch damit leben. Sie zumindest. Und alle anderen, außer der Familie. Der Mutter. Dem Vater.
»Tromsø! Das kann nicht sein!«
Sie beugte sich über den Tisch und versuchte, ihm in die Augen zu sehen. Er drehte sich zur Kaffeemaschine um. Kraftlos und langsam stand er auf. Öffnete einen Hängeschrank und nahm zwei Becher heraus. Blieb
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