In kalter Absicht
Natürlich kann es sich um eine ganz zufällige Auswahl handeln. Wahrscheinlich ist das aber nicht. Daß der Mann plötzlich und ganz ohne Grund beschließt, daß jetzt Tromsø an der Reihe ist … wohl kaum. Zwischen diesen Kindern besteht zweifellos irgendein Zusammenhang.«
»Oder zwischen ihren Eltern.«
»Genau«, sagte Inger Johanne. »Noch mehr Kaffee?«
»Der kommt mir gleich wieder hoch.«
»Tee?«
»Heiße Milch wäre vielleicht keine schlechte Idee.«
»Dann schläfst du nur ein.«
»Wäre gar nicht so verkehrt.«
Es war halb sechs. Der König von Amerika hatte einen Alptraum, seine kurzen Beine ruderten heftig auf der Flucht vor einem geträumten Feind. Die Luft in der Küche war stickig. Inger Johanne öffnete ein Fenster.
»Das Problem ist, daß wir keinen Zusammenhang finden zwischen den verdamm … zwischen den Eltern.«
Yngvar breitete resigniert die Arme aus.
»Das heißt natürlich nicht, daß es keinen gibt«, wandte Inger Johanne ein, setzte sich auf den Küchentisch und stellte die Füße auf eine halb herausgezogene Schublade.
»Laß uns doch für einen Moment einfach mal mit dem Gedanken spielen«, sagte sie dann. »Daß wir es mit einem Psychopathen zu tun haben. Ganz einfach, weil er so grausame Taten begeht, daß er einer sein muß. Was suchen wir dann eigentlich?«
»Einen Psychopathen«, murmelte Yngvar.
Sie überhörte das.
»Psychopathen sind nicht so selten, wie wir glauben. Nach manchen Schätzungen machen sie ein Prozent der Bevölkerung aus. Die meisten von uns bezeichnen mit diesem Wort Leute, deren Nase uns nicht paßt, und es trifft also häufiger zu, als wir glauben möchten. Obwohl …«
»Ich dachte, das hieße heutzutage desoziale Persönlichkeitsstörung«, sagte Yngvar.
»Das ist etwas anderes. Die Diagnosekriterien überlappen sich bisweilen, aber … egal. Jetzt hör mir doch mal zu, Yngvar. Ich versuche zu denken.«
»Sicher. Das Problem ist nur, daß ich einfach nicht mehr denken kann.«
»Dann überlaß das mir. Aber hör mir wenigstens zu! Gewalt … Gewalt kann generell in zwei Arten eingeteilt werden, in die instrumentale und die reaktive.«
»Weiß ich«, murmelte Yngvar.
»Unsere Fälle sind ganz eindeutig das Resultat instrumentaler Gewalt, also zielgerichteter, geplanter Gewaltausübung.«
»Im Gegensatz zur reaktiven Gewalt«, sagte Yngvar langsam. »Die eher die Folge einer äußeren Bedrohung oder Frustration ist.«
»Instrumentale Gewalt ist für Psychopathen viel typischer als für uns andere. Sie setzt in gewisser Hinsicht eine Art … eine Art Bosheit voraus, könnten wir vielleicht sagen. Oder, wissenschaftlicher, eine mangelnde Fähigkeit zur Empathie.«
»Ja, die macht ihm nicht übermäßig zu schaffen, dem Guten …«
»Die Eltern«, sagte Inger Johanne langsam.
Sie sprang vom Tisch und öffnete den ramponierten Pilotenkoffer. Dann suchte sie den Umschlag mit der Aufschrift »Eltern« heraus und legte die darin enthaltenen Zettel nebeneinander auf den Boden. Hund Jack hob den Kopf, legte sich dann aber ruhig wieder hin.
»Hier muß es einfach etwas geben«, sagte sie verbissen. »Zwischen diesen Menschen besteht irgendeine Verbindung. Es ist einfach nicht möglich, einen dermaßen intensiven Haß auf vier Kinder von neun, acht, fünf und knapp einem Jahr zu entwikkeln.«
»Geht es denn überhaupt um die Kinder«, sagte Yngvar in leicht fragendem Ton und beugte sich über die Zettel.
»Vielleicht nicht. Vielleicht sowohl als auch. Um Kinder und Eltern. Um die Väter. Die Mütter. Was weiß ich?«
»Emilies Mutter ist tot.«
»Und Emilie ist die einzige, die wir noch nicht gefunden haben.«
Es wurde totenstill im Zimmer. Die Stille ließ die Wanduhr lauter ticken, die unerbittlich auf sechs Uhr zuging.
»Alle Eltern sind weiß«, sagte Inger Johanne plötzlich. »Alle stammen aus Norwegen. Sie kennen sich untereinander nicht. Keine gemeinsamen Freunde. Keine gemeinsamen Arbeitsplätze. Das ist gelinde gesagt …«
»Auffällig. Hat er sich diese Kinder ausgesucht, gerade weil sie nichts gemeinsam haben?«
»Gemeinsam, gemeinsam, gemeinsam …«
Immer wieder murmelte sie dieses Wort, wie ein Mantra.
»Das Alter. Das Alter reicht von fünfundzwanzig, Glenn Hugos Mutter, bis zu neununddreißig, Emilies Vater. Das Alter der Mütter reicht von …«
»Fünfundzwanzig bis einunddreißig«, sagte Yngvar. »Eine Spanne von sechs Jahren. Nicht viel.«
»Andererseits sind alle diese Frauen Mütter von kleinen Kindern.
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