Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
Vom Netzwerk:
er zum Haus hinüber. Auf der Nordwestseite gab es keine Nachbarn, nur frühlingsmüde kleine Birken und übriggebliebene schmutzige Schneeflecken. Er atmete schwer. Er hatte nicht das Gefühl, das er haben sollte. Die Nervosität schnürte ihm die Kehle zusammen und ließ ihn mehrere Male ganz schnell schlucken. So hatte er das noch nie erlebt. Krampfhaft hielt er sich an seiner kleinen Gürteltasche fest. Hochstimmung. Die müßte er jetzt fühlen. Eine Sicherheit, die ihn innerlich jubeln ließe. Jetzt war seine Zeit gekommen.
    Seine Zeit war da.
    Er konnte sie nur mit Mühe hören. Ohne auf die Uhr zu sehen, wußte er, daß sie drei zeigte. Er hielt den Atem an. Es wurde still. Er warf einen Blick um die Hausecke und sah, daß er mehr Glück hatte, als er sich hätte träumen lassen. Sie hatte den Kinderwagen unten vor dem Haus abgestellt. Auf der Terrasse stand eine alte Hollywoodschaukel, da war für den Kinderwagen kein Platz mehr. Es gab keine anderen Geräusche mehr auf der Welt als seine eigenen raschen Atemzüge und ein Flugzeug, das zur Landung auf Langnes ansetzte. Er öffnete die Tasche. Machte sich bereit. Näherte sich dem Wagen.
    Der stand unter dem Dachvorsprung, geschützt vor dem Nieselregen. Trotzdem war das Kind zugedeckt, als heulten noch die Winterstürme um das Haus. Das Klappverdeck war hochgezogen. Der Wagenkasten war mit einem Regenschutz bedeckt. Außerdem hatte die Mutter noch eine Art Netz über alles gespannt, vielleicht um das Kind vor streunenden Katzen zu schützen. Er mühte sich mit dem Katzennetz ab. Knöpfte den Regenschutz auf und zerrte daran. Das Kind lag in einem blauen Schlafsack und hatte eine Mütze auf. Es war Ende Mai, und das Kind trug eine Mütze! Eine engsitzende Mütze. Das Band unter dem Kinn verschwand in einer Falte des molligen Halses. Es war eng im Wagen. Das Kind schlief tief und mit offenem Mund.
    Er durfte es nicht wecken.
    Er würde es niemals schaffen, dem Kind genügend Kleider auszuziehen.
    » Scheiße!«
    Die Panik erfaßte ihn wie eine Riesenwelle, von unten, von den Füßen her, sie raste durch seinen Körper nach oben und verschlug ihm den Atem. Er verlor die Spritze. Er brauchte die Spritze. Das Kind riß den Mund auf und gurgelte. Das Kind war ein großes atmendes Loch. Die Spritze. Er bückte sich, hob sie auf, steckte sie in die Tasche, zog den Zettel hervor, mit zitternden Händen, ließ die Plastikhülle fallen. Bückte sich, hob sie hoch und steckte sie in die Tasche. Der Schlafsack war mit Daunen gefüllt. Er zog ihn über das atmende Loch. Hielt den dunkelblauen Stoff fest zwischen den Fingern, zwischen den Handschuhfingern, das Kind wand sich, wollte sich von dem Druck befreien, es war erstaunlich leicht, das zu verhindern, er hielt fest, drückte zu und ließ nicht los, und endlich war da unter Daunen und blauem Stoff nichts mehr, was sich wehrte. Aber er ließ nicht los. Noch nicht. Hielt fest und drückte. Das Flugzeug war gelandet, und überall herrschte Stille.
    Zum Glück dachte er an den Zettel.
    »Ich habe an den Zettel gedacht«, sagte er sich, als er ins Auto stieg. »Ich habe an den Zettel gedacht.«
    Obwohl er zweimal am Steuer einnickte – er wurde beide Male gerade noch rechtzeitig davon wach, daß der Wagen auf dem unbefestigten Straßenrand ins Schleudern kam –, schaffte er es doch bis Majavatn, ohne anzuhalten, außer zum Pinkeln und um auf einsamen Waldwegen Benzin nachzufüllen. Er mußte schlafen. An einer Stichstraße, die zu einem stillgelegten Campingplatz führte, fand er ein Versteck für sein Auto.
    So hätte es nicht passieren dürfen.
    Er hätte alles unter Kontrolle haben müssen. Er hätte alles nach Plan durchführen müssen. Plötzlich konnte er nicht schlafen, obwohl ihm vor Schlafmangel schlecht war. Er brach in Tränen aus. So hätte es nicht passieren dürfen. Das hier war doch seine Zeit. Endlich. Sein Plan, sein Ziel. Er weinte heftiger und schämte sich, er fluchte und schlug sich ins Gesicht.
    »Zum Glück habe ich an den Zettel gedacht«, murmelte er und wischte sich den Rotz mit den Fingern ab.

34
    Die Türklingel riß sie aus einem Traum. Es klingelte nur ganz kurz, als versuche jemand sie zu wecken, ohne Kristiane aus dem Schlaf zu reißen. Der König von Amerika fiepte kläglich im Zimmer der Kleinen, und sie ließ ihn heraus, ehe sie zur Tür ging. Zum Glück schien ihre Tochter ungestört weiterzuschlafen, im schweren Geruch von Schlaf und Hundepisse. Der Hund sprang immer wieder an ihr

Weitere Kostenlose Bücher