In kalter Absicht
einen Moment stehen und sah sich die Becher an. Der eine zeigte einen Ferrari, den die Spülmaschine zu blaßrosa hatte verbleichen lassen. Der andere war geformt wie ein klobiger Drache, mit einem zerbrochenen Flügel und dem Schwanz als Henkel. Er füllte beide mit Kaffee und reichte Inger Johanne den Ferrari-Becher. Der Kaffeedampf ließ ihr Gesicht feucht werden. Sie umschloß den Becher mit beiden Händen und wartete auf Yngvars Zustimmung. Tromsø war zu weit entfernt. Die Vorgehensweise stimmte nicht. Der Täter hatte kein viertes Opfer gefunden. Das konnte einfach nicht sein. Der Hund fiepte im Schlaf.
»Der Zettel«, sagte er müde und nippte an der glühendheißen Flüssigkeit. »Er hat wieder einen Zettel hinterlassen. Du hast bekommen, was du verdienst.«
» Aber …«
»Dieses Detail haben wir noch nicht an die Presse weitergegeben. In den Zeitungen ist es mit keinem Wort erwähnt worden. Wir haben es bis jetzt für uns behalten können. Er muß es sein.«
Inger Johanne schaute auf die Uhr.
»Fünf vor halb zwei«, sagte sie. »Wir haben vier Stunden und fünfunddreißig Minuten, bis der Wecker nebenan losgeht. Also ans Werk. Ich gehe davon aus, daß dein Pilotenkoffer irgend etwas enthält. Her damit. Wir haben viereinhalb Stunden.«
»Die einzige Gemeinsamkeit besteht also aus der Mitteilung?«
Sie lehnte sich resigniert im Sessel zurück und verschränkte die Hände im Nacken. Überall lagen gelbe Zettel. Am Kühlschrank hing ein großes Plakat, es war aufgerollt gewesen und mußte mit Klebeband befestigt werden, um nicht herunterzufallen. Die Namen der Kinder standen ganz oben, gefolgt von allerlei Informationen, von Lieblingsgerichten bis zu früheren Krankheiten. Die Spalte »Glenn Hugo« war spärlich gefüllt. Das einzige, was sie bisher über den kleinen Jungen wußten, der noch keine vierundzwanzig Stunden tot war, war eine äußerst vorläufige Todesursache. Ersticken. Dazu kamen Alter und Gewicht. Ein normaler, gesunder Junge von elf Monaten.
Auf einem A4-Blatt über dem Herd stand außerdem, daß die Eltern May Berit und Frode Benonisen hießen, fünfundzwanzig und achtundzwanzig Jahre alt waren und im Haus von May Berits Mutter wohnten, die nicht ganz unvermögend war. Beide waren bei der Gemeinde angestellt, er bei der Stadtreinigung, sie als Sekretärin im Vorzimmer des Bürgermeisters. Frode besaß den mittleren Schulabschluß und hatte eine mäßig erfolgreiche Karriere als Fußballer in der Regionalliga hinter sich. May Berit hatte an der Universität Oslo das Grundstudium in den Fächern Religionsgeschichte und Spanisch absolviert. Sie waren fast auf den Tag genau seit zwei Jahren verheiratet.
»Der Zettel. Und alle sind Kinder. Und alle sind tot.«
»Nein. Emilie vielleicht nicht. Darüber wissen wir nichts.«
»Richtig.«
Er rieb sich mit den Fingerknöcheln über den Kopf.
»Das Papier, auf dem diese Mitteilungen geschrieben sind, stammt von zwei verschiedenen Blocks. Oder Papierstapeln, um genau zu sein. Es ist normales Kopierpapier, von der Sorte, die alle Computerbesitzer für Ausdrucke benutzen. Keine Fingerabdrücke. Obwohl …«
Wieder rieb er sich den Kopf, und im Licht der starken Stehlampe, die sie aus dem Wohnzimmer geholt hatte, war eine ganz schwache Schuppenwolke zu erkennen.
»Es ist noch zu früh, um darüber etwas Definitives sagen zu können. Der letzte Zettel ist noch im Labor. Aber ich glaube, wir sollten uns keine allzu großen Hoffnungen machen. Dieser Bursche ist vorsichtig. Sehr vorsichtig. Seine Handschrift sieht von Zettel zu Zettel anders aus, jedenfalls auf den ersten Blick. Das kann Absicht sein. Ein Sachverständiger wird die Zettel vergleichen.«
»Aber dieser Zeuge … dieser …«
Inger Johanne stand auf und ließ ihren Zeigefinger über eine Serie von gelben Zetteln laufen, die neben dem Fenster an einer Schranktür befestigt waren.
»Hier. Ein Mann im Soltunvei. Was hat der eigentlich genau gesehen?«
»Ein emeritierter Professor. An sich ein sehr glaubwürdiger Zeuge. Das Problem ist nur, daß er …«
Yngvar füllte seine Tasse zum sechsten Mal. Er versuchte ein saures Aufstoßen zu unterdrücken und preßte sich die Faust auf den Mund.
»Er sieht nicht sehr gut. Trägt eine ziemlich starke Brille. Aber jedenfalls … Er hat an seiner Terrasse irgendwelche Ausbesserungsarbeiten vorgenommen. Und von dort hat er die Straße hier unten gut im Blick.«
Yngvar nahm einen Holzlöffel als Zeigestock und richtete ihn auf die
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