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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Dorothea Mohaug
    Der Mann war bei seinem Tod also siebenundzwanzig gewesen. 1956, als die kleine Hedvig entführt, vergewaltigt und ermordet worden war, war er achtzehn.
    »Achtzehn Jahre …«
    Es gab keinen Nachruf. Inger Johanne hatte danach gesucht, dann aber aufgegeben, als sie die Zeitungen der nächsten vier Wochen nach der Beisetzung durchgesehen hatte. Niemand hatte etwas über Anders Mohaug zu sagen gehabt. Seine Mutter hatte nicht einmal darum bitten müssen, von Blumengrüßen doch freundlichst abzusehen.
    Wie alt mochte sie wohl sein? Inger Johanne zählte an den Fingern ab. Wenn sie bei der Geburt ihres Sohnes fünfundzwanzig gewesen wäre, dann müßte sie jetzt fast die Neunzig erreicht haben. Achtundachtzig wäre sie. Falls sie noch lebte. Sie konnte auch älter sein. Sie konnte den Jungen ja erst spät bekommen haben.
    »Sie ist tot«, murmelte Inger Johanne und steckte die Kopie der Todesanzeige in eine Plastikmappe.
    Trotzdem beschloß sie, einen Versuch zu machen. Es war leicht gewesen, in einem Telefonbuch aus dem Jahre 1965 die Adresse zu finden. Die Auskunft konnte mitteilen, daß unter Agnes Mohaugs alter Adresse jetzt eine Dame mit einem ganz anderen Namen wohnte. Agnes Mohaug sei nicht länger als Inhaberin eines Telefonanschlusses registriert, erklärte die metallische Stimme am anderen Ende.
    Aber vielleicht erinnerte sich noch jemand an sie. Oder an ihren Sohn. Bestenfalls fand sie jemanden, der sich an Anders erinnerte.
    Es war einen Versuch wert, und die alte Adresse in Lillestrøm konnte immerhin als Ausgangspunkt dienen. Alvhild würde sich freuen. Aus irgendeinem Grund war es Inger Johanne inzwischen wichtig, Alvhild eine Freude zu machen.

37
    Emilie kam ihm kleiner vor. Sie schien geschrumpft zu sein, und darüber ärgerte er sich. Er preßte die Kiefer aufeinander, hörte die Backenzähne knacken und versuchte sich zu entspannen. Emilie konnte sich über ihre Verpflegung nicht beklagen. Sie bekam doch genug.
    »Warum ißt du nicht?« fragte er wütend.
    Das Kind gab keine Antwort, versuchte aber zu lächeln. Das war doch schon was.
    »Du mußt essen.«
    Das Tablett war glatt. Der Suppenteller rutschte hin und her, als er sich bückte, um alles auf den Boden zu stellen.
    »Kannst du mir versprechen, daß du das hier essen wirst?«
    Emilie nickte. Sie zog sich die Decke bis unters Kinn; er konnte nicht mehr sehen, wie mager sie war. Besser so. Sie roch nicht gut. Schon in der Tür konnte er den Uringeruch wahrnehmen. Ekelhaft. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, zum Waschbecken zu gehen und nachzusehen, ob sie noch Seife hatte. Dann entschied er sich dagegen. Sie trug jetzt zwar schon seit Wochen dieselbe Kleidung, aber sie war schließlich kein kleines Kind mehr. Sie konnte sich jederzeit ihre Unterhose waschen. Wenn sie noch Seife hatte.
    »Wäschst du dich?«
    Sie nickte zaghaft. Lächelte. Ein seltsames Lächeln hatte diese Kleine. Irgendwie unterwürfig. Weiblich. Sie war erst neun, aber dieses unterwürfige Lächeln hatte sie schon gelernt. Dieses Lächeln, das keinerlei Bedeutung hatte. Außer Verrat. Frauenlächeln. Wieder verspürte er ganz hinten im Kiefer diesen Schmerz, er mußte sich zusammenreißen. Sich entspannen. Er mußte die Kontrolle wiedergewinnen. Die ihm in Tromsø entglitten war. Fast entglitten. Die Sache dort war nicht plangemäß verlaufen. Das war nicht sein Fehler. Das Wetter war schuld. Er hatte nicht damit gerechnet, daß es regnen könnte. Daß es so kalt war. Mai! Mai, und der Kleine war eingemummelt wie im bittersten Winter. Das konnte doch nicht gesund sein. Aber egal. Das Kind war tot. Er war wieder zu Hause. Das war das wichtigste. Er hatte noch immer die Kontrolle. Er atmete schwer und zwang seine Gedanken in die gewünschte Richtung. Dahin, wo sie hingehörten. Warum war dieses Kind in seinem Haus?
    »Nimm dich in acht«, sagte er leise.
    Er fand den Geruch des Kindes grauenhaft. Er selbst duschte jeden Tag mehrere Male. War niemals unrasiert. Seine Kleidung war immer frisch gebügelt. Seine Mutter roch manchmal so wie Emilie, wenn die Pflegerin sich verspätete. Er fand das unerträglich. Menschliche Verwesung. Erniedrigende Körpergerüche, die von mangelnder Kontrolle herrührten. Er schluckte energisch, sein Mund füllte sich mit Speichel, und das Schlucken fiel ihm schwer und tat weh.
    »Soll ich das Licht ausmachen«, fragte er und trat einen kleinen Schritt zurück.
    »Nein!«
    Sie lebte also doch noch.
    »Nein! Das

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