In letzter Sekunde - Child, L: In letzter Sekunde - Echo Burning/ Reacher 05
zugesprochen bekommen. Aber der Kerl zahlt nicht. Er weigert sich einfach. Er will sie aushungern. Er will erreichen, dass sie nach Mexiko zurückgehen. Und das wird ihm gelingen, denn ein neues Verfahren dauert mindestens ein Jahr, und sie können bis dahin nicht von Luft und Wasser leben, oder?«
»Sie waren nicht versichert?«
»Die Prämien sind viel zu hoch. Diese Leute können kaum ihren Lebensunterhalt erwirtschaften. Wir konnten nur direkt gegen den Rancher vorgehen. Klare Beweislage, gut vorgetragen, und wir haben gewonnen. Aber der Mistkerl hockt weiter auf seinem Geld und lacht sich ins Fäustchen.«
»Ganz schönes Pech«, meinte Reacher.
»Unglaublich«, sagte sie. »Einfach unglaublich, was solche Leute durchmachen. Der älteste Sohn dieser Familie, von der ich rede, ist von der Grenzpolizei erschossen worden.«
»Tatsächlich?«
Die junge Frau nickte. »Vor zwölf Jahren. Sie waren Illegale. Haben ihre gesamten Ersparnisse einem Schlepper gegeben, der sie über die Grenze bringen sollte, aber er hat sie einfach in der Wüste ausgesetzt. Ohne Essen, ohne Wasser. Sie halten sich tagsüber versteckt und marschieren nachts weiter nach Norden. Eine mit Gewehren bewaffnete Streife der Grenzpolizei jagt sie in der Dunkelheit und erschießt ihren ältesten Sohn. Sie begraben ihn und ziehen weiter.«
»Haben sie Anzeige erstattet?«
»Soll das ein Witz sein? Sie waren Illegale. Sie konnten nichts unternehmen. Solche Dinge sind dauernd passiert. Jeder kann Ihnen solche Geschichten erzählen. Und jetzt sind sie hier sesshaft und haben durch die Amnestie Bleiberecht erhalten. Wir versuchen, bei ihnen Vertrauen zu unserer Justiz zu wecken, und dann passiert so was. Ich komme mir wie eine Idiotin vor.«
»Nicht Ihre Schuld.«
»Doch, es ist meine Schuld. Ich hätt’s besser wissen müssen. Vertraut uns, fordere ich sie auf.«
Sie verstummte, und Reacher beobachtete, wie sie sich zu beruhigen versuchte.
»Wie auch immer«, sagte sie, sprach dann aber nicht weiter und wich seinem Blick aus. Sie war eine attraktive Frau. In ihrem Büro herrschte unerträgliche Hitze. An der Stelle des ehemaligen Kippfensters über der Ladentür saß eine Klimaanlage, ein großes altes Ding, das aber wenig bewirkte.
»Wie auch immer«, sagte sie nochmals und sah ihn dabei an. »Was kann ich für Sie tun?«
»Nicht für mich«, antwortete Reacher. »Für eine Frau, die ich kenne.«
»Sie braucht einen Anwalt?«
»Sie hat auf ihren Mann geschossen. Er hat sie misshandelt.«
»Wann?«
»Letzte Nacht. Jetzt sitzt sie drüben im Gefängnis.«
»Ist er tot?«
Reacher nickte.
Sie ließ ihre Schultern hängen, zog eine Schublade auf und nahm einen gelben Anwaltsblock heraus.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie.
»Wie ich heiße?«
»Sie reden gerade mit mir.«
»Reacher«, sagte er. »Und Sie?«
Sie schrieb Reacher auf die erste Zeile ihres linierten Blocks.
»Alice«, sagte sie. »Alice Amanda Aaron.«
»Sie sollten eine eigene Kanzlei eröffnen. Im Branchenverzeichnis würden Sie an erster Stelle stehen.«
Sie lächelte schwach. »Das werde ich eines Tages auch tun«, sagte sie. »Dies ist eine fünfjährige Übereinkunft mit meinem Gewissen.«
»Sie stottern Schulden ab?«
»Ich tue Buße«, erwiderte sie. »Dafür, dass ich immer Glück gehabt habe. Dafür, dass ich die Harvard Law School besuchen durfte. Dafür, dass ich aus einer Familie stamme, für die zwanzigtausend Dollar die monatlichen Nebenkosten ihrer Eigentumswohnung an der Park Avenue bedeuten.«
»Freut mich für Sie, Alice.«
»Erzählen Sie mir also von Ihrer Freundin.«
»Sie ist mexikanischer Abstammung und war mit einem Weißen verheiratet. Sie heißt Carmen Greer, und ihr Mann war Sloop Greer.«
»Sloop?«
»Ja, Sloop, wie die Bezeichnung für das Boot.«
»Okay«, sagte Alice und schrieb alles auf.
»Die Misshandlungen haben in den letzten eineinhalb Jahren aufgehört, weil er wegen Steuerhinterziehung gesessen hat. Er ist gestern entlassen worden und hat sie wieder geschlagen, und da hat sie ihn erschossen.«
»Okay.«
»Beweise und Zeugen werden schwer zu finden sein. Er hat sie heimlich misshandelt.«
»Verletzungen?«
»Ziemlich schwere. Aber sie hat immer so getan, als seien Pferde daran schuld.«
»Pferde?«
»Als sei sie vom Pferd gefallen.«
»Warum?«
Reacher zuckte mit den Achseln. »Schwer zu sagen. Familienrücksichten, Druck, Scham, Angst.«
»Aber dass sie misshandelt wurde, steht außer Zweifel?«
»Für
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