In letzter Sekunde - Child, L: In letzter Sekunde - Echo Burning/ Reacher 05
die ganze Ranch überblicken. Die Frau hatte sie dreihundert Meter nördlich abgesetzt und war nach Pecos zurückgefahren.
»Wann schlagen wir zu?«, hatten die beiden sie gefragt.
»Wenn ich’s sage«, war ihre Antwort gewesen.
Reacher hielt sich an der Kreuzung mitten in Pecos links und folgte einer Straße, die parallel zu den Bahngleisen verlief. Er kam am Busbahnhof vorüber und erreichte eine Ladenzeile, die längst nicht mehr ihren ursprünglichen Zweck erfüllte, sondern in preiswerte Geschäftsräume für die Gerichtsklientel umfunktioniert worden war: professionelle Bürgen und Rechtsberatungsstellen in ehemaligen Ladenlokalen, genau wie die Vollzugsbeamtin gesagt hatte. In allen Beratungsstellen gab es Reihen von Schreibtischen, vor denen Stühle für die Klienten standen, und Wartebereiche hinter dem Eingang. Alle waren schmuddelig und primitiv eingerichtet. Überall stapelten sich Akten, und die Wände neben und hinter den Schreibtischen waren mit angeklebten und angehefteten Notizen übersät. Um zwanzig nach acht herrschte hier schon Hochbetrieb. In allen Beratungsstellen warteten geduldig kleine Gruppen von Leuten, und auf den Stühlen vor den Schreibtischen saßen sorgenvoll dreinblickende Klienten. Manche waren allein, aber die meisten hatten ihre oft kinderreichen Familien dabei. Und alle waren Hispanier, auch einige der Anwälte, aber insgesamt schien es ein bunt gemischter Haufen zu sein. Männer, Frauen, junge und alte, gut gelaunte und niedergeschlagene.
Er entschied sich für das einzige Etablissement, in dem vor einer Anwältin ein Stuhl frei war. Diese Beratungsstelle lag fast am Ende der Straße, und der Stuhl stand weit hinten im Raum. Die Anwältin war eine junge, etwa fünfundzwanzigjährige Weiße mit dichtem schwarzem Haar, das sie ziemlich kurz geschnitten trug. Sie war braun gebrannt und hatte statt einer Bluse ein weißes Bustier an. Ihre schwarze Lederjacke hing über ihrer Stuhllehne, und sie selbst verschwand fast hinter zwei hohen Aktenstapeln. Sie telefonierte gerade und war offensichtlich den Tränen nahe.
Reacher trat vor den Schreibtisch und wartete darauf, dass sie ihn mit einer Handbewegung auffordern würde, Platz zu
nehmen. Das tat sie nicht, aber er setzte sich trotzdem. Sie taxierte ihn flüchtig, sah wieder weg. Sprach weiter ins Telefon. Sie hatte schwarze Augen und sehr weiße Zähne und sprach Spanisch mit Ostküstenakzent – so stockend, dass er das meiste mitbekam. Sie sagte: Ja, wir haben gewonnen. Dann: Aber er zahlt nicht. Er weigert sich einfach. Zwischendurch schwieg sie, hörte geduldig zu und wiederholte dann: Wir haben gewonnen, aber er zahlt trotzdem nicht . Danach hörte sie wieder zu. Was tun wir jetzt? , musste die Frage gelautet haben, denn sie antwortete: Wir klagen auf Zahlung, um das Urteil durchzusetzen. Die nächste Frage lautete offenbar: Wie lange kann das dauern? , denn sie wurde ganz still und sagte: Ein Jahr. Vielleicht zwei . Reacher hörte, dass am anderen Ende beredtes Schweigen eintrat. Er verfolgte das Mienenspiel der jungen Frau. Sie war betroffen, verlegen und gedemütigt. Sie sagte: Lamaré de nuevo más tarde, dann legte sie auf. Ich rufe Sie bald wieder an.
Dann schloss sie die Augen und atmete ein paar Mal tief durch, legte die Handflächen auf die Schreibtischplatte. Atmete tief weiter. Vielleicht war das eine Entspannungsübung, die sie während des Studiums gelernt hatte. Aber diesmal schien sie nicht viel zu bringen. Sie öffnete die Augen, schob eine Akte in eine Schublade und sah zwischen den Papierstapeln zu Reacher.
»Problem?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern und nickte gleichzeitig.
»Ein gewonnener Prozess ist erst der halbe Sieg«, sagte sie. »Manchmal sogar viel weniger, das können Sie mir glauben.«
»Was ist denn passiert?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das brauchen wir nicht zu vertiefen.«
»Irgendein Kerl will nicht zahlen?«, sagte Reacher.
Wieder diese Kombination aus Nicken und Schulterzucken.
»Ein Rancher«, erklärte sie. »Hat mit seinem Wagen den Lastwagen meines Mandanten gerammt, ihn und seine Frau und zwei seiner Kinder verletzt. Das war sehr früh am Morgen. Er war angetrunken auf dem Heimweg von einer Party. Sie waren auf dem Weg zum Markt. Es war Erntezeit, und sie konnten nicht mehr auf den Feldern arbeiten, und so ist die gesamte Ernte verdorben.«
»Honigmelonen?«
»Nein, Paprika. Sind auf dem Feld verfault. Wir haben geklagt und zwanzigtausend Dollar Schadenersatz
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