In letzter Sekunde
nur eine Frage der Zeit."
Lynn hatte vierundzwanzig Stunden gebraucht, um aus dem Drogenrausch herauszukommen. Sie setzte sich im Krankenhausbett auf und schaute die Frau an, die wohl ungefähr in ihrem Alter war, also fast dreißig.
Ihre Hand bebte, als sie ihr Wasser trank. Es war das dritte Glas, seit sie ihre Aussage begonnen hatte. „Und wenn mir keine Zeit bleibt? Was ist, wenn er bei mir zu Haus auf mich wartet?"
Die Polizistin klappte ihr Notizbuch zu und steckte ihren Kugelschreiber in den dicken goldbraunen Haarknoten im Nacken. „Möchten Sie vielleicht lieber ein paar Sachen einpacken und für eine Weile bei einer Freundin wohnen? Oder bei Verwandten?"
Lynn schüttelte den Kopf. „Ich will niemanden in diese furchtbare Sache hineinziehen.
Man glaubt, man hätte alles im Griff, und dann passiert so etwas."
Ihre ältere Schwester war vor zwei Jahren gewaltsam ums Leben gekommen. Ihre jüngere Schwester arbeitete zurzeit in London und versuchte gleichzeitig, sich von den seelischen Verletzungen ihrer Scheidung zu erholen. Ihre Eltern, obwohl sie noch zusammenlebten, auch wenn allein der Himmel wusste, warum, hatten ihre eigenen Probleme. Ihr Vater war schon seit geraumer Zeit krank, und ihre Mutter musste ihn pflegen. Lynn hatte ihr telefonisch eine Kurzfassung der Geschehnisse gegeben, wollte sie aber auf keinen Fall weiter damit belasten.
„Dann fahre ich Sie nach Hause und überprüfe persönlich Ihre Wohnung, Miss Cross."
„Bitte, nennen Sie mich Lynn. Evelyn benutze ich nur beruflich", erklärte sie und fügte dann hinzu: „Bei mir im Apartmenthaus gibt es einen Wachdienst. Ohne deren Wissen kommt niemand hinein."
„Das ist gut." Die Polizistin nickte zufrieden. „Und ich heiße Stella. Ich muss sagen, ich bewundere Sie für das, was Sie tun."
„Leuten zu helfen, sich zu trennen?"
„Ich sehe das anders. Sie helfen den Ehefrauen, das zu bekommen, was . ihnen zusteht."
„Ich wusste nicht, dass das allgemein bekannt ist."
„Wem hätte der Fall Churchill entgehen können? Bei den Schlagzeilen. Aber wichtiger noch ist Ihre unentgeltliche Arbeit - dass Sie Frauen vertreten, die nicht die Mittel haben, sich von ihren brutalen Männern zu trennen."
„Ein guter Grund, morgens aufzustehen."
„Ich habe nachgedacht über das, was Sie zu Protokoll gegeben haben -dass Sie glauben, der Kerl habe Sie bestrafen wollen, dass er sagte, Sie seien doch diejenige, die gern Reden hält. Sie sprechen vor Gericht. Sie nehmen Männern etwas weg. Männern, die mitunter auch gewalttätig sein können."
„Der Gedanke ist mir auch gekommen. Vor allem, weil er mich Evelyn genannt hat", krächzte Lynn.
Ihre Kehle war noch immer wund, genau wie ihre Handgelenke und ihr Gesicht, dort wo der Kerl sie geschlagen hatte. Sie war sich nicht sicher, was schlimmer gewesen war -
gefangen gehalten zu werden oder aber das, was danach kam. Ärzte, die sie auf Verletzungen untersuchten. Polizisten, die jede Einzelheit wissen wollten. Da ihre Erinnerung Lücken aufwies, wurde sie sehr gründlich durchgecheckt. Zu ihrer unendlichen Erleichterung war sie nicht vergewaltigt worden.
„Aber wenn ich jetzt spontan jemand nennen sollte ..." Lynn schüttelte den Kopf, sie hatte keine Ahnung.
„Lassen wir uns damit noch Zeit. Ich bin sicher, Ihnen wird dazu noch etwas einfallen.
Ziehen Sie sich schon mal an. Ich warte unten in der Halle auf Sie", erklärte die Polizistin.
„Außer, Sie brauchen Hilfe ..."
„Danke, das schaffe ich schon." Lynn schwang die Beine auf den Boden. „Ich meine, es geht mir wieder gut. Keine bleibenden Schäden."
Detective Jacobek nickte und verließ den Raum.
Keine bleibenden Schäden ...
Stimmte das?
Ihr Kopf war klar, sie stand fest auf den eigenen Beinen, körperlich waren keine Ausfälle zu erkennen ...
Aber wie sah es in ihr aus?
Während sie sich anzog, sah sie ihr geisterhaftes Spiegelbild im Fenster. Nach außen hin wirkte sie nicht verändert - lange dunkelblonde Haare, hübsches Gesicht, gesunder Körper, im Fitnessstudio trainiert. Die Augen hingegen verrieten mehr. Das Hellgrau hatte sich in ein Stahlgrau verwandelt. Wenn die Augen wirklich der Spiegel der Seele waren, dann war sie zutiefst verwundet worden.
Und sie hatte Angst.
Ein Schauer überlief sie. Rasch zog sie die restlichen Sachen an, die man ihr gegeben hatte.
Ihre eigenen Kleider waren für kriminalistische Untersuchungen einbehalten worden. Lynn wollte keine Erinnerungsstücke an die letzten beiden Tage
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