In Liebe, Rachel
rothaarige kleine Madeline und ihre Mutter in einem Vintage-Chanel-Kostüm über einer großen Schüssel Eiscreme saßen. »Was meinst du? Sollen wir den Eiffel Tower Hot Fudge Sundae oder das Petite Banana Splits Fontainebleau nehmen?«
Grace verrenkte sich sehr undamenhaft den Hals, um einen Blick auf das Eiffel-Tower-Eis am Nachbartisch zu werfen. Jo entdeckte ein paar Tische weiter ein Fontainebleau und wies Grace auch darauf hin.
»Weißt du was?«, fragte sie, als Grace unentschlossen auf ihrer Unterlippe herumkaute. »Ich nehme das eine, du das andere, und dann teilen wir.«
»Das haben Jessie und ich auch immer gemacht«, erwiderte Grace und rutschte aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her, »wenn wir zu Hause zu Dairy Princess gegangen sind.«
Jo hielt inne, die Teetasse auf halber Höhe. »Zu Hause« war für Grace offenbar immer noch New Jersey bei ihren Großeltern. Ein scharfer Schmerz durchzuckte Jos Brust.
»Nun, Kleines«, sagte sie und räusperte sich, »ich kann zweimal so viel essen wie die dürre Jessie! Sei also lieber schnell mit deinem Löffel.«
Als die beiden gefühlte sechstausend Kalorien später aus dem Hotel watschelten, schlug Jo vor, ein paar Blocks zu laufen. Mutterschaft setzte schneller Pfunde an als zwei Wochen nächtliches Essen von diversen Imbissen. Sie trotzten also dem frischen Wind und gingen in Richtung Central Park. Grace knöpfte ihren blauen Madeline-Wollmantel bis zum Hals zu, und Jo wickelte sich in ihren Paschminaschal. Das Mädchen hüpfte in ihren Mary-Jane-Lackschuhen den Gehsteig entlang, den dahinwehenden Blättern hinterher. Die Bäume des Central Park, rotbraun und goldfarben leuchtend, rauschten im Wind, während die schwache Novembersonne ihre Köpfe wärmte. Der Winter stand vor der Tür, doch noch war New York City einfach traumhaft schön.
Als sie die Fifth Avenue überquerten, schob Grace ihre Hand in die von Jo, eine Hand, die ohne Gewicht schien, so klein, so warm und ein wenig feucht.
Obwohl sie eine geschäftige Straße in einer geschäftigen Stadt entlanggingen, auf der gelbe Taxis vorbeirasten, Lastwagen über den löchrigen Asphalt rumpelten und extralange Busse an den Haltestellen quietschend zum Stehen kamen, hatte Jo plötzlich das Gefühl, sich in einem Kokon der Stille zu befinden, eingehüllt in eine weiche, behagliche Decke.
Es gab keinen Grund, nach Hause zu hetzen.
Jo beugte sich hinunter und sah dem kleinen Mädchen in die Augen. »Hey, Gracie, was hältst du davon, wenn wir ein bisschen von dem Eis in dem Park da drüben abtrainieren? Ich habe gehört, dass es dort eine richtig tolle runde Rutsche geben soll.«
Grace lächelte und schoss dann auf die Öffnung in der Steinmauer zu. Jo folgte ihr und beobachtete, wie die Schleife auf dem Hut des Mädchens im Wind flatterte. Grace lief zu der Brücke und quietschte vergnügt, als sie die spiralförmige Rutsche aus Granit erblickte.
Schuldbewusst warf Jo einen Blick auf ihre Armbanduhr. Grace’ Tante und ihre Großmutter – Jessie und Mrs Braun – wollten heute zu Besuch kommen, und zwar schon in einer Stunde. Sarah war bereits in Jos Wohnung, um die Brauns hineinzulassen, sollten Jo und Grace sich verspäten, doch Jo war nicht wegen einer eventuellen Verspätung in Sorge. Sie freute sich auf den Besuch etwa ebenso sehr wie auf ihre »Performance Review« am Montag im Büro, und zwar aus demselben Grund. Während der letzten zwei Wochen hatte sie versucht, zwei sehr wichtige Dinge zu erledigen: einen neuen Kunden an Land zu ziehen und einem kleinen elternlosen Mädchen ein neues Zuhause zu schaffen. Das Erste hatte sie verpatzt, das Zweite würde erst noch beurteilt werden, und das Gästezimmer schien mittlerweile von einer Horde Plüschhasen besetzt zu sein.
Jo folgte Grace durch den Park und schob ihre Schuldgefühle beiseite. Bis jetzt hatte sie mit Grace einen wunderbaren Tag gehabt … und auch eine richtig gute Woche. Grace war nur zweimal schlafgewandelt und begann, ihren Speiseplan über Apfelschnitze und Makkaroni mit Käse hinaus zu erweitern. Außerdem hatte es nur einen Wutanfall gegeben, weil Jo die falsche Zahnpastamarke gekauft hatte. Doch Jos finsteres Südstaatengespür meldete, dass der Frieden während des Besuches von Nana Leah und Tante Jessie womöglich nicht anhielt. Grace würde sie zum ersten Mal wiedersehen, seit Jo sie aus Teaneck nach New York geholt hatte.
Jo erinnerte sich an ihre eigenen »Familienbesuche«. Sie schloss die Augen und sah das
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