In Liebe, Rachel
schweifen.
»Das ist ja mal eine Wohnung.«
»Es ist eine kostenlose Unterkunft. Tim ist selten daheim und lässt in der Zwischenzeit immer Freunde hier übernachten.«
»Schau mal, man sieht meine Fußspuren auf dem Boden. Hier ist es richtig dreckig.« Kate blickte zum Computer, der noch lief, auch wenn die Internetverbindung unterbrochen war. »Himmel, was ist das denn? Aus den Sechziger Jahren übrig geblieben?«
»Leider funktioniert er auch. Ich hatte eine gute Verbindung, als ich dich angerufen habe, doch man muss sich einwählen, und ich will Tim keine Riesenrechnung hinterlassen. Ich dachte, ich könnte mich ja noch mal einwählen, wenn du hier bist und mich wiederbeleben kannst, sollte ich ohnmächtig werden.«
Sarah tippte die Nummer ein und wartete auf das Wählsignal. Dieses Mal klappte die Verbindung sofort. »Setz dich. Es dauert mindestens ein Glas Wein, bis die Seite geladen ist.«
Kate fand sofort den gemütlichen Platz auf dem Sofa, Sarah setzte sich ans andere Ende. Sie nahm einen Schluck Wein, der sicher ein guter Jahrgang war, doch sie trank nur selten und konnte es im Grunde nicht beurteilen. Die Pfarrerstochter in sich wurde sie eben einfach nicht los.
»Okay, Miss Sarah. Das wird weh tun. Bist du bereit?«
»Ärzte sagen so was, bevor sie die Knochensäge hervorholen.«
»Was willst du herausfinden? Ich meine, was wäre das Beste, was du erfahren könntest?«
Sarah schwenkte den Wein in ihrem Glas. Einmal hatte Colin Fußball mit den Kindern im Dorf gespielt. Eine Schweißspur hatte sein T-Shirt am Rücken verdunkelt. Eine Woche zuvor hatte er sich zuletzt rasiert. Er hatte ihr einen raschen Blick über die Schulter zugeworfen und dabei gegrinst.
Weiße Zähne, zerzaustes Haar.
»Ich hoffe«, sagte sie, »dass er immer noch sein Sixpack hat.«
»Nicht gemein werden.«
»Okay, okay.« Dann also die Wahrheit. »Ich wünsche mir, dass er glücklich ist.«
»Das Internet wird dir das aber nicht sagen.«
»Vielleicht doch. Ich kenne den Mann.« Jeden Zentimeter von ihm. Von der v-förmigen Narbe an seinem Hals, genau unter seinem Ohr, bis hin zu den langen Füßen mit den lustigen Zehen, seiner scharfsinnigen Intelligenz und seinem großen Herzen. »Wenn ich herausfände, dass er immer noch für eine Hilfsorganisation oder Ähnliches arbeitet, dann wüsste ich, dass er glücklich ist.«
»Was, wenn er verheiratet ist?«
Das Wort schlug ein wie eine Granate. Sarah krümmte sich und stellte ihr Weinglas klirrend auf der Tischplatte ab. Das war es, nicht wahr? Die Wurzel allen Übels. Er war neununddreißig Jahre alt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mann wie der, den sie in Paraguay gekannt hatte, über vierzehn Jahre hinweg Single und kinderlos bleiben sollte. Für sie war die gemeinsame Zeit mit ihm heilig und überstrahlte jeden neuen Beziehungsversuch. Doch vielleicht – nur vielleicht – waren Colins Gefühle nie so tief gewesen wie ihre.
Schließlich war er nie zurückgekommen.
»Wenn er verheiratet ist«, sagte Sarah und würgte an dem Wort herum, »dann ist seine Frau die glücklichste Hexe der Welt.«
»Und deine Aufgabe ist beendet. Hier und jetzt, in diesem Zimmer.«
Viel mehr als das wird beendet sein.
Sarah rieb sich die Braue, wie um ihre Gedanken zu verbergen. Kate lebte nicht ihr Leben, sie würde es nicht verstehen. Und Sarah würde sie auch nicht mit den neuesten, erst wenige Wochen alten Ereignissen im Lager in Burundi belasten. Sarah hatte die Unmenschlichkeit von Menschen schon früher mit angesehen: humanitäre Hilfsgüter, die schon im Hafen für irgendwelche Warlords abgezweigt wurden, medizinische Verbrauchsgüter, die von Achtjährigen gestohlen wurden, damit sie ihre Sucht befriedigen konnten, Budgeteinschränkungen parallel zum Ausbruch von Masernepidemien. Aber das arme Mädchen, das sie in der schlammigen Lagergasse gefunden hatten, hatte all das noch übertroffen.
Sie war ein winziges kleines Ding, mit zwei schiefen Zöpfen, die von Holzperlen zusammengehalten wurden. Bei den von einer Vergewaltigung herrührenden Verletzungen war Dr. Mwami nicht sicher gewesen, ob er sie operieren konnte.
Sarah zog die Brauen zusammen und verdrängte die Erinnerung. Sie zwang sich, kräftig durchzuatmen. Dann verbannte sie die schrecklichen Bilder zu all den anderen tief in ihrem Innern, wo sie in einer dunklen Ecke eingelagert wurden.
Deshalb brauchte sie die Erinnerung an Colin, redete sie sich ein. Um sich zu vergewissern, dass es noch
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