In Liebe, Rachel
Gedränge, während ein Übersetzer ihr wie ein Schatten folgte. Sie beugte sich lächelnd zu einem kranken Kind, dessen Gesicht von Wunden übersät war, und zog spielerisch an seinem Haar, während sie einen Pfleger nach einem bestimmten Antibiotikum schickte. Als sie auf Kates Seite des Raumes angekommen war, blickte sie flüchtig auf und sagte: »Ich gebe dir gleich etwas zu tun, Kate.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich muss nur erst noch die Fälle priorisieren.«
Kate lehnte sich gegen die Wand und fühlte sich, als wäre sie gerade aus dem Flugzeug gesprungen, und ihr Fallschirm hätte sich nicht geöffnet, und sie sähe nur den blauen Himmel und die grüne Erde. Unter ihr wartete der Asphalt mit der Landefläche, und er kam immer näher …
Kate zuckte zusammen, riss die Augen auf. Sie lehnte an einer Wand, eine nutzlose Amerikanerin, die in einer indischen Dorfklinik stand und nichts tat, außer mit offenem Mund das Elend der Welt anzustarren.
Was mache ich hier nur?
Sie wusste, was sie hier machte. Sie war mit Sarah hergekommen. Sie wollte einen Einblick in Sarahs unglaublich aufregendes Leben bekommen. Sie wollte exotische Orte sehen und fremdes Essen probieren. Sie wollte sich bis auf Haaresbreite der Gefahr nähern. Sie wollte Anekdoten für zukünftige Dinnerpartys sammeln.
Als ich einmal auf einem Elefanten durch den Dschungel von Mysore ritt …
Sie wollte bei Kanapees Geschichten wie aus der
National Geographic
erzählen, so dass Pauls übergebildete Geschäftspartner und deren schicke, arbeitende Ehefrauen nicht mehr auf die Jeans und mit Babyspucke beschmierte, T-Shirts tragende, geistig degenerierte Hausfrau herabsahen, zu der sie geworden war.
Damit Paul sie sähe, sie
wirklich
sähe.
Kate vergrub das Gesicht in ihren zitternden Händen. Sie war Rachels Sprung gesprungen, doch er hatte sie so weit vom Kurs abgetrieben, um die halbe Welt, an einen Ort, an dem sie so nutzlos war wie nie zuvor.
Es war zu viel. Ein Schleier legte sich über ihr Gesichtsfeld, und sie drohte ohnmächtig zu werden. Rasch lief sie aus dem Warteraum, um ihren Kreislauf wieder in Gang zu bringen. Sie wusste nicht, wohin sie lief, und es war ihr gleichgültig. Sie konnte einfach nicht länger hier herumstehen. An den zwei Operationssälen mit den flackernden Lichtern und den Grüppchen von weißgekleideten Ärzten ging sie vorbei, ziellos, als wollte sie vor sich selbst fliehen.
Und rannte blind in Sam hinein.
»Verdammt!« Er packte sie an den Oberarmen. »Kate? Wohin willst du denn?«
Sie blickte ihm in die Augen. Die Narben auf seinen Wangen verliehen ihm Charakter und Stärke, wie die Kerben im Gesicht einer alten römischen Statue. Sam war eigensinnig und lustig und kompetent und lebte ein sinnvolles Leben voller Engagement, so viel bedeutsamer als das ihre.
Seine Hände lagen immer noch auf ihren Oberarmen. »Du siehst elend aus. Komm her.« Er zog sie in einen Raum, der voll alter Ausrüstung, Werkzeug und Kabel war. »Geht es dir nicht gut? Du bist noch blasser als sonst.«
Sie konnte nicht sprechen, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie konnte nur auf seinen Mund blicken und daran denken, wie lange es her war, dass sie und Paul miteinander geschlafen hatten. Sam war groß und aufregend unvertraut. Er sah gut aus und war freundlich. Sein Griff um ihre Oberarme verstärkte sich, selbst als ihr diese Gedanken durch den Kopf schossen.
»Kate, schau mich nicht so verträumt an. Du weißt, dass es nur eine Frau gibt, von der ich mir wünsche, dass sie mich so ansieht. Ist da draußen etwas passiert?«
Sie schüttelte den Kopf. In dem halbdunklen Raum schimmerte ihr Ehering. Ihr Ehering. Sie dachte an Paul, der irgendwo in New Jersey versuchte, den Alltag mit Tess, Michael und Anna zu bewältigen.
»Es tut mir leid.« Sie rieb sich mit den Händen übers Gesicht und wünschte, sie könnte auch die Scham wegreiben. »Ich weiß nicht, was gerade über mich gekommen ist.«
»Sei nicht zu hart zu dir selbst. Nur jemand mit einem Herz aus Stein kommt an einen solchen Ort und bleibt unbeteiligt. Du solltest nach Hause fahren.«
»Ich hoffe, dass ich noch ein Zuhause habe.«
»Natürlich hast du noch ein Zuhause.«
Nein, Sam, so einfach ist es nicht. Paul ist sehr wütend.
»Komm mal her.« Er umarmte sie und klopfte ihr beruhigend auf den Rücken. »Nichts ist so schlimm, wie man zuerst denkt.«
Kate presste ihre Wange an seine Brust. Sein Herz schlug fest und sicher. Sam war
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