In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition)
offensichtlich verärgert. Sie hatten die Tür ebenfalls nicht hinter sich geschlossen. Eine korpulente Frau stand bei ihnen.
»Die Witwe?«, wandte sich Knut an den Bergwerksdirektor.
»Nein, selbstverständlich nicht. Bei der Frau handelt es sich um Ljudmila Wyborova Babjuk. Sie ist Köchin in der Kantine der Arbeiter und soll die Gedenkfeier vorbereiten. Außerdem ist sie die Leiterin des Kulturkomitees von Barentsburg.«
Knut nickte. Der Direktor verstand also Norwegisch und sprach es ziemlich gut. Er wandte sich dennoch an den Dolmetscher. »Wer sind die anderen?«
Der Dolmetscher kam näher heran. »Tja, das sind einfach … Neugierige. Bergarbeiter, Kollegen des Toten. Sie haben hier eigentlich gar nichts verloren, aber vermutlich gehört, dass ein Vertreter des Büros der Regierungsbevollmächtigten anwesend ist. Vielleicht wollen sie mit Ihnen sprechen? Sie haben einen albernen Streik angezettelt, weil …« Als er den wütenden Blick des Direktors bemerkte, hielt er plötzlich verlegen inne.
Der Konsul trat ein paar Schritte vor, so dass er nun zwischen Knut und den anderen Russen stand. »Gehen wir zurück in mein Büro?« Plötzlich sprach er ebenfalls Norwegisch.
»Einen Augenblick, ich würde den Verstorbenen gern näher untersuchen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ihn anfasse? Außerdem würde ich gern ein paar Fotos machen …?«
Knut wartete nicht auf eine Antwort, schob den Konsul beiseite und ging wieder zu der Leiche auf der Bank. Er bückte sich und griff prüfend nach einzelnen Kleidungsstücken und Körperteilen. Wie erwartet war die Kleidung steif, im Gegensatz zu dem Körper. Seit man die Leiche gefunden hatte, waren einige Stunden vergangen; die Leichenstarre verschwand allmählich.
Knut zog das Taschenmesser heraus, das er stets bei sich trug, schlitzte ein Hosenbein auf und breitete es auseinander. Nicht nur die Füße waren übel zugerichtet. Die blauschwarzen Flecken an Knöcheln und Knien sahen aus, als stammten sie von Verletzungen, die sich der Tote vor seinem Ableben zugezogen hatte. Nach einigen Minuten richtete Knut sich wieder auf und untersuchte den übrigen Körper. Es war ihm ein wenig peinlich, vor allem, als er mit der Kamera ganz nah heranging. In gewisser Weise kam es ihm respektlos vor. Außerdem hatte er nicht sehr viel Erfahrung mit technischen Ermittlungsverfahren. Er arbeitete vor allem weiter, um den Schein zu wahren, zückte seinen Notizblock, notierte sich etwas. Die Hände – er betrachtete die blutigen Finger. Wie war es zu diesen Verletzungen gekommen? Vorsichtig griff er nach einer Hand. Ein Gefühl, als würde er eine Puppe anfassen, deren Finger schlaff und kalt waren. Er drückte auf den Handrücken. Weich, unangenehm nachgiebig. Wie ein mit Kies gefüllter Gummihandschuh.
Der Konsul ging ungeduldig auf und ab. Das Mittagessen war bestellt und sollte vor der Abreise nach Longyearbyen in seinem Büro serviert werden. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits drei Uhr nachmittags war. Im Übrigen gab es nichts mehr zu sehen, immerhin war der Tote von einem Arzt untersucht worden. Der Konsul redete so schnell, dass der Dolmetscher Probleme hatte, mit der Übersetzung nachzukommen. Schließlich drehte der Konsul sich um und marschierte auf die Eingangstür zu. Knut hatte keine Wahl, er musste folgen. Den Direktor sah er nicht. Er war mit den aufgebrachten Arbeitern nach draußen gegangen.
Vor dem Versammlungssaal war der kurze arktische Tag bereits vorbei. Am Himmel zeigten sich Sterne. Die zitronengelben Streifen auf den Felsen wurden schwächer und verschwanden, als sie vom Versammlungssaal zum Konsulat zurückgingen. Der vorsichtige, unsichere Spaziergang im Halbdunklen auf den glatten, verschneiten Wegen kam ihm vor wie in einem Traum. Zwischen den Häusern, an denen sie vorbeigingen, reckten sich Schatten aus den schmalen Zwischenräumen. Knut fühlte sich beobachtet, versuchte aber, seine Unruhe abzuschütteln.
Der Dolmetscher hielt mit Knut Schritt. »Im Büro des Herrn Konsul erwartet Sie ein Mittagessen«, erklärte er. »Außerdem hat seine Sekretärin ein Dokument zur Unterschrift vorbereitet.«
Das geräumige Büro des Konsuls hatte man aus Anlass des Essens umgeräumt. Der große, mit Büchern und Aktenmappen übersäte Konferenztisch war abgeräumt und stand mitten im Zimmer. Die Sessel um den Couchtisch waren zur Seite geschoben. Die Tischplatte bog sich unter den Platten und Schüsseln. Eine Auswahl Flaschen und Gläser
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