In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition)
insgesamt hunderteinundvierzig Insassen an Bord hatte überlebt. Über den Anblick, der sich der Rettungsmannschaft bot, wurde in allen grausamen Details berichtet.
Damals war er nicht in Longyearbyen gewesen und konnte sich an den polizeilichen Ermittlungen nicht beteiligen. Er war gerade als Beamter für die Sommersaison nach Spitzbergen gekommen und sollte nur ein paar Monate bleiben. Mit Torbjørn, einem Freund aus Kinderzeiten, hatte er eine Inspektionsreise mit Zelt und Schlauchboot östlich der Sjuøyene unternommen. Die Nachrichten hatten sie über ein Feldradio empfangen. Sogar diese sparsamen Informationen über das Flugzeugunglück hinterließen einen nachhaltigen Eindruck. Als er einige Wochen später zurückkam, hatte man den Mantel des Schweigens über den Fall gebreitet, im Büro wollte niemand darüber sprechen.
»Der Verstorbene – Ivan Sergej… Sergejewitsch –, hatte er etwas mit dem Flugzeugabsturz zu tun? War er deshalb deprimiert?«
»Wir waren alle bedrückt, ja mehr als das. Barentsburg ist nicht wie Longyearbyen, hier gibt es nur das Kohlebergwerk. Keine flotten Bauten für die Bürokratie, keine Läden oder Schulen, auch keine Universität mit Studenten. Die meisten Russen auf Spitzbergen haben untereinander irgendeine Verbindung, sie kommen aus denselben Orten in der Ukraine und Russland oder wurden von einem Onkel oder Freund, der bereits hier lebte, als Bergarbeiter empfohlen. Der Trust leitet alles, wir sind an die Gesellschaft gebunden. Sogar der Konsul …«
»Der Konsul? Gibt es eine Verbindung zwischen ihm und Trust Arktikugol?«
Der Dolmetscher ignorierte die Frage und wollte weiter von dem Flugzeugunglück erzählen. Knut glaubte nicht, dass er Neues zu hören bekommen würde. 1996, als er nach der Feldexpedition in den Norden wieder ins Büro des Regierungsbevollmächtigten kam, hatte er sich gewundert, wie zurückhaltend der damalige Regierungsvertreter ihn über den Absturz informierte. Aber er hatte alle Berichte gelesen, einschließlich des Resümees der Havariekommission und der quälend detaillierten Beschreibung des Unfallorts durch die Rettungsmannschaft.
»So viele Tote. Alle Passagiere hatten Verbindungen nach Barentsburg, zu Bergarbeitern oder Familienangehörigen. Aber ihr Norweger habt als Erstes daran gedacht, dass die Tupolev ein altes Flugzeug mit vielen Fehlern ist … das war ihre eigene Schuld, habt ihr gedacht, die Schuld der unterlegenen Russen mit ihrer veralteten Technologie …«
Knut wollte protestieren, obwohl er wusste, dass es ohnehin nichts half. »Ihr … wen meinen Sie? Die Zeitungen in Norwegen … die Menschen in Longyearbyen oder die Behörden? Dass die Presse über Ursachen und Schuld spekuliert, damit müssen wir alle leben – auch die Norweger. Wäre die Maschine einer norwegischen Fluggesellschaft mit dem Berg kollidiert, hätte man exakt dasselbe geschrieben und behauptet. Außerdem hat die Tupolev eine ziemlich erschreckende Unfallstatistik.«
»Aber es war kein Fehler des Flugzeugs …«
»Nein …« Knut unterbrach sich. Wieso saßen sie hier in einem stromlosen Barentsburg und diskutierten über ein altes Flugzeugunglück?
»Wenn die Maschine auf der Anflugschneise 10 hätte landen können, so wie sie es erbeten hatte, wären sie vielleicht sicher heruntergekommen.« Der Dolmetscher sah Knut unter halb geschlossenen Augenlidern an. »Sie hatten bereits einen Anflug von der See her berechnet und dem Tower durchgegeben. Und dann … im letzten Augenblick. So muss es für die Piloten ausgesehen haben. Sie wurden gebeten, noch eine Runde über Longyearbyen zu drehen und zwischen den Bergen zu landen.«
Knut seufzte. Er kannte die Diskussion genau. »Es herrschte Gegenwind. Der Tower hielt es für sicherer, die alternative Landerichtung über dem Tal zu wählen. Laut Bericht der Havariekommission, den ich mehrfach gelesen habe, sind die Unglücksursachen fehlerhafte Navigation und defekte Instrumente – insgesamt achtzehn Punkte. Außerdem hatte sich Nebel über den Bergen gebildet, die Piloten hatten keinen Sichtkontakt. Die Maschine wich von ihrer Flugbahn ab und zerschellte am Operafjellet.«
»Sie hätten vom Meer aus landen können, der Gegenwind war nicht so stark. Zehn Minuten länger, und sie hätten sicher auf der Erde gestanden … nur ein paar Kilometer.«
»14,3 Kilometer, um genau zu sein. Aber wieso reden wir darüber?«
Der Dolmetscher wandte das Gesicht ab, in dem dunklen Zimmer warf sein Kopf am Fenster
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