In manchen Nächten: Kriminalroman (German Edition)
einen Schatten. »Ich war an diesem Tag auf dem Flugplatz von Longyearbyen. Zusammen mit Russen und Ukrainern aus Barentsburg und Pyramiden, die nach Hause aufs Festland wollten. Und mit unserem Bergbauingenieur, der auf seine Frau und seine beiden Kinder wartete. Ich stand bei ihnen und schaute in den Himmel, um das Flugzeug zu sehen … meine Verlobte war an Bord. Sie kam das erste Mal nach Spitzbergen.«
»Oh, ich wusste nicht …«
»Wir standen da und wussten nichts. Wir schlugen vor, dass unser Hubschrauber sich an der Suche beteiligen sollte. Er stand bereit, um die Passagiere nach Barentsburg zu transportieren. Aber da war das Unglück bereits geschehen. Bergleute, Familien, Freunde – alle lagen zusammen mit den Wrackteilen des Flugzeugs über das Bergplateau verstreut. Zerschmettert, in Stücke gerissen – keine Überlebenden.«
Knut erinnerte sich an ein Foto der Unglücksstelle, das ihn am meisten berührt hatte – ein Spielzeugteddy im Schnee zwischen Wrackteilen und zerfetzten menschlichen Körpern. Es waren viele Kinder unter den Toten.
»Sie glauben vielleicht, ich erzähle Ihnen das, um mich sympathisch zu machen. Nein, ich erzähle es, um zu zeigen, dass ihr Norweger geschmeidige Gesetze habt. Sie denken vermutlich, der Spitzbergen-Vertrag und die norwegischen Gesetze beschützen uns Bewohner von Barentsburg genauso wie euch in Longyearbyen? Aber nicht, wenn Großmachtpolitik im Spiel ist. Dann gelten andere Maßstäbe. Und wer muss bezahlen? Ja, wir – die gewöhnlichen Russen und Ukrainer. Wir haben ein Rettungsteam geschickt, unsere besten Leute, um uns an der Suche nach Überlebenden zu beteiligen … wenn es denn möglich gewesen wäre, auch nur einen einzigen zu finden. Vielleicht lag ja irgendjemand schwer verletzt im Schnee und ist erfroren?«
»Ich glaube nicht …« Knut wollte nicht auf die Funde rund um das Flugzeugwrack eingehen. Das Letzte, was Angehörige aufgaben, war die Hoffnung, dass der eine Glückliche gefunden wurde.
»Wissen Sie, was diesem russischen Rettungsteam passierte? Sie wurden oben auf dem Berg in Handschellen gelegt. Sie wurden verhaftet, zum Regierungsbevollmächtigten gebracht und einem fünfstündigen Verhör unterzogen. Nicht, weil sie etwas so Lumpiges versucht hätten, wie das Gepäck zu plündern, das über den blutbefleckten Schnee verstreut lag. Manch einer in Longyearbyen mag das geglaubt haben … Nein, sie hatten sich außerhalb des Gebiets aufgehalten, das ihnen der Regierungsvertreter zugewiesen hatte – außerhalb des Gebiets, in dem sich Russen aufhalten durften. Um nach Überlebenden zu suchen! Was glauben Sie, wie haben wir über euch Norweger gedacht, als wir wieder in Barentsburg und Pyramiden hockten?«
Knut wusste von dieser merkwürdigen Episode während der Rettungsarbeiten, aber er wollte das Gespräch beenden. Sie könnten die Diskussion ein andermal fortsetzen. Er fühlte sich schläfrig, gleichzeitig war er aber auch nervös. Er stand auf, trat ans Fenster und blickte über die dunkle Stadt.
»Sie haben gesagt, die Wasserleitungen und Abwasserkanäle frieren bei Stromausfall nach einer Weile ein. Wie lange dauert es bis dahin?«
Der Dolmetscher überhörte die Frage. »Ich kann Ihnen noch etwas erzählen, was Sie vielleicht überrascht. Über das Grubenunglück ein Jahr später.«
»23. September 1997. Gerade hatte in Longyearbyen eine Gedenkfeier für das Flugzeugunglück im Jahr zuvor stattgefunden. Der Mönch Kliment war auf persönliche Bitte des Metropoliten Kyrill gekommen, um die Gedenkstätte am Fuß des Operafjellet zu segnen, einen Glockenturm und einen Teil des verunglückten Flugzeugs. Auch in Barentsburg gab es einen Gottesdienst mit der Fürbitte, die russische Bevölkerung möge ein solches Leid nicht noch einmal erleben.
Nur gab es ein fatales Gerücht über eine mögliche Stilllegung von Pyramiden. Die vielen Einsparungen in Barentsburg. Immer mehr Bergleute mussten in eine unsichere Zukunft aufs Festland zurück, der Bergbaubetrieb und die Bevölkerung auf Spitzbergen bekamen immer weniger Unterstützung. Es wurde mehr oder weniger verboten, seine Familie in Barentsburg zu haben. Die Kinder wurden aufs Festland geschickt, die Schule wurde geschlossen. Lachende und spielende Kinder verschwanden, die bunten Zeichnungen, die ganzen Lieder und Theateraufführungen. Es gab keine Freude mehr in der Siedlung … aber das Gefährlichste war natürlich, dass das Werk wichtige Ausrüstungsgegenstände nicht mehr
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