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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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flüsterte mein Bruder, ohne aufzusehen.
    Meine Mutter erstarrte. Das Auto öffnete sich. Voller Hass und Spannung - ein reißender Strom aus Blut, der zu durchschwimmen war.
    »Buck«, sagte sie, nachdem ihr gerade noch rechtzeitig sein verkürzter Name eingefallen war, »siehst du mich bitte an?«
    Er funkelte sie über den Vordersitz hinweg an, bohrte seine Wut in sie.
    Irgendwann drehte sich meine Mutter wieder nach vorn um, und Samuel, Lindsey und mein Bruder hörten vom Beifahrersitz die Geräusche, die sie angestrengt nicht zu machen suchte. Kleine Piepser und ein ersticktes Schluchzen. Aber auch noch so viele Tränen hätten Buckley nicht umgestimmt. Er hatte Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr einen unterirdischen Speicher an Hass angelegt. Tief in seinem Innern hockte der Vierjährige, dessen Herz blitzschnell von Herz zu Stein wurde, von Herz zu Stein.
    »Es wird uns allen besser gehen, wenn wir Mr. Salmon gesehen haben«, sagte Samuel, und dann beugte er sich, weil sogar er es nicht aushielt, zum Armaturenbrett vor und stellte das Radio an.
    Es war dasselbe Krankenhaus, in das sie vor acht Jahren mitten in der Nacht gekommen war. Ein anderes Stockwerk, in einer anderen Farbe gestrichen, doch sie spürte, wie es sie umschloss, als sie den Flur entlangging - was sie dort getan hatte. Das Drängen von Lens Körper, ihr an die rau verputzte Wand gepresster Rücken. Alles in ihr wollte wegrennen - zurückfliegen nach Kalifornien, zurück in ihr ruhiges Dasein bei der Arbeit unter Fremden. Sich in den Furchen von Baumstämmen und tropischen Blütenblättern verstecken, sicher geborgen zwischen so vielen exotischen Pflanzen und Menschen.
    Die Fesseln und Oxford-Pumps ihrer Mutter, die sie vom Korridor aus sah, holten sie wieder in die Gegenwart. Eins der vielen simplen Dinge, die sie verloren hatte, indem sie so weit fortgezogen war, das ganz Alltägliche an den Füßen ihrer Mutter - ihre Solidität und Komik -, siebzigjährige Füße in lächerlich unbequemen Schuhen.
    Doch als sie in das Zimmer trat, fiel alles andere - ihr Sohn, ihre Tochter, ihre Mutter - von ihr ab.
    Die Augen meines Vaters waren schwach, öffneten sich aber flatternd, als er sie hereinkommen hörte. Kanülen und Drähte kamen aus seinem Handgelenk und seiner Schulter. Sein Kopf wirkte sehr zerbrechlich auf dem kleinen, quadratischen Kissen.
    Sie hielt seine Hand und weinte lautlos, ließ die Tränen ungehindert fließen.
    »Hallo, du mit den Ozeanaugen«, sagte er.
    Sie nickte. Dieser gebrochene, geschlagene Mann - ihr Mann.
    »Mein Mädchen«, stieß er schwer atmend hervor.
    »Jack.«
    »Da siehst du, was ich tun musste, damit du nach Hause kommst.«
    »War es das wert?«, fragte sie, freudlos lächelnd.
    »Das müssen wir abwarten«, sagte er.
    Sie zusammen zu sehen war wie ein dürftiger Glaube, der Wirklichkeit geworden war.
    Mein Vater sah einen Hoffnungsschimmer, etwa die farbigen Flecken in den Augen meiner Mutter - Dinge zum Festhalten. Dazu zählte er auch die zerbrochenen Planken und Bretter eines einstigen Schiffes, das auf etwas Größeres als es selbst gestoßen und gesunken war. Ihm blieben jetzt nur noch Überreste und Artefakte. Er versuchte, nach oben zu greifen und ihre Wange zu streicheln, aber sein Arm fühlte sich zu schwach an. Sie rückte näher und legte ihre Wange in seine Handfläche.
    Meine Großmutter wusste, wie man sich mit hohen Absätzen lautlos bewegt. Auf Zehenspitzen schlich sie aus dem Zimmer. Als sie sich in ihrer normalen Gangart dem Wartebereich näherte, fing sie eine Krankenschwester mit einer Nachricht für Jack Salmon in Zimmer 582 ab. Sie hatte den Mann nie kennen gelernt, doch sie kannte seinen Namen. »Len Fenerman kommt Sie bald besuchen. Wünscht Ihnen alles Gute.« Sie faltete den Zettel säuberlich. Kurz bevor sie auf Lindsey und Buckley traf, die sich zu Samuel im Warteraum gesellen wollten, knipste sie den Metallverschluss ihrer Handtasche auf und steckte ihn zwischen ihre Puderdose und ihren Kamm.

20
    Als Mr. Harvey an diesem Abend den mit Blech gedeckten Schuppen in Connecticut erreichte, sah es nach Regen aus. Vor mehreren Jahren hatte er in dem Schuppen eine junge Kellnerin umgebracht und sich dann von dem Trinkgeld, das er in ihrer Schürzentasche fand, eine neue Hose gekauft. Inzwischen würde sie verwest sein, und tatsächlich, als er sich dem Gelände näherte, begrüßte ihn kein widerlicher Gestank. Aber der Schuppen stand offen, und er konnte sehen, dass die Erde

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