In meinem Himmel
für ein Weilchen schlief sie ein.
Als sie Philadelphia erreichten und das Flugzeug auf der Landebahn entlangrollte, musste sie sich ins Gedächtnis zurückrufen, wo sie war und welches Jahr es war. Hastig klickte sie alles durch, was sie sagen könnte, wenn sie ihre Kinder sah, ihre Mutter, Jack. Und dann, als sie endlich zitternd zum Stillstand kamen, gab sie auf und konzentrierte sich nur aufs Aussteigen.
Sie erkannte ihr eigenes Kind kaum, das am Ende der langen Rampe wartete. In den Jahren, die verstrichen waren, war Lindsey eckig geworden, dünn, jede Spur von Babyspeck verschwunden. Und neben meiner Schwester stand jemand, der wie ihr männlicher Zwilling aussah. Ein bisschen größer, ein bisschen mehr Muskeln. Sie starrte die beiden so angestrengt an, und sie erwiderten ihren Blick, dass sie den rundlichen Jungen zunächst gar nicht sah, der ein Stück weiter seitlich auf der Armlehne einer Reihe mit Wartezimmerstühlen saß.
Und dann, kurz bevor sie auf sie zuzugehen begann - denn in den ersten Momenten erschienen sie ihr reglos, unbeweglich, starr, als wären sie in einer zähflüssigen Gelatine gefangen, aus der sie nur ihre eigene Bewegung befreien könnte -, erblickte sie Buckley.
Sie fing an, die mit Teppich belegte Rampe hinabzugehen. Sie hörte Ankündigungen, die im Flughafen gemacht wurden, und sah Passagiere mit normaleren Begrüßungsworten an sich vorbeieilen. Aber es war, als betrete sie eine Zeitmaschine, als sie ihn anschaute. 1944 im Camp Winnekukka. Sie war zwölf und hatte Pausbacken und plumpe Beine; alles, was ihren Töchtern Gott sei Dank erspart geblieben war, musste jetzt ihr Sohn erdulden. So viele Jahre war sie fort gewesen, so viel Zeit, die sie nie mehr einholen konnte.
Wenn sie mitgezählt hätte, wie ich es tat, hätte sie gewusst, dass sie mit dreiundsiebzig Schritten schaffte, wovor sie fast sieben Jahre lang zu viel Angst gehabt hatte.
Es war meine Schwester, die als Erste sprach.
»Mom«, sagte sie.
Meine Mutter guckte Lindsey an und schnellte von dem einsamen Mädchen, das sie im Camp Winnekukka gewesen war, achtunddreißig Jahre vorwärts in die Gegenwart.
»Lindsey«, sagte meine Mutter.
Lindsey starrte sie an. Buckley stand jetzt auch, doch er schaute erst auf seine Schuhe und dann über seine Schulter aus dem Fenster, dorthin, wo die Flugzeuge parkten und ihre Passagiere in Ziehharmonikaröhren spien.
»Wie geht's deinem Vater?«, fragte meine Mutter.
Meine Schwester hatte das Wort
Mom
ausgesprochen und war dann erstarrt. Es schmeckte seifig und fremdartig in ihrem Mund.
»Er ist nicht in bester Verfassung, fürchte ich«, sagte Samuel. Es war der längste Satz, den bisher jemand geäußert hatte, und meine Mutter stellte fest, dass sie unverhältnismäßig dankbar dafür war.
»Buckley?«, sagte meine Mutter, wobei sie keine besondere Miene für ihn aufsetzte. Sie war einfach, wer sie war- wer auch immer das sein mochte.
Sein Kopf fuhr zu ihr herum wie eine Panzerkanone. »Buck«, sagte er.
»Buck«, wiederholte sie leise und schaute auf ihre Hände.
Wo sind deine Ringe
, hätte Lindsey am liebsten gefragt.
»Sollen wir gehen?«, fragte Samuel. Alle vier betraten den langen, mit Teppich ausgelegten Tunnel, der sie vom Flugsteig ins Hauptterminal bringen würde. Sie gingen schon auf die tiefer liegende Gepäckausgabe zu, als meine Mutter sagte: »Ich habe kein Gepäck mitgebracht.«
Sie standen in einem linkischen Haufen da, und Samuel hielt nach den richtigen Schildern Ausschau, die sie zurück ins Parkhaus geleiten würden.
»Mom«, versuchte es meine Schwester erneut.
»Ich habe dich angelogen«, sagte meine Mutter, ehe Lindsey etwas hinzufügen konnte. Ihre Blicke begegneten einander, und in dem heißen Draht, der sich von einer zur anderen spann, sah ich es, ich schwöre, wie eine Ratte, die unverdaut das Innere einer Schlange aufbläht: das Geheimnis um Len.
»Wir fahren mit dem Aufzug hoch«, sagte Samuel, »dann kommen wir oben über den Laufgang zum Parkhaus.«
Samuel rief Buckley, der in Richtung eines Kaders von Sicherheitsbeamten abgedriftet war. Uniformen hatten ihre Anziehungskraft auf ihn nicht verloren.
Sie waren schon auf dem Highway, als Lindsey als Nächste sprach. »Sie wollen Buckley wegen seines Alters nicht zu Dad lassen.«
Meine Mutter drehte sich in ihrem Sitz um. »Ich schaue mal, ob man da nicht was machen kann«, sagte sie, den Blick auf Buckley gerichtet, mit dem ersten Versuch eines Lächelns.
»Leck mich«,
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